Two years for Gerhard and two cents for Melina



Vor genau zwei Jahren habe ich mit meinem Tangoblog begonnen – und ich bereue davon keinen Tag! Gerade habe ich meinen Beitrag zum „Einjährigen“ gelesen und mich gewundert, worüber ich mich damals noch freute. Inzwischen gestalten sich die Zahlen mit weit heftigerem Trend nach oben:

Die Zahl der Zugriffe auf mein Blog hat sich im zweiten Jahr um 133 Prozent auf knapp 70000 gesteigert, die der Posts um 90 Prozent auf insgesamt 151; die Rate der Kommentare ist ziemlich gleichbleibend bei zirka 3 pro Artikel. (Wenn ich nicht etliche anonyme Wortmeldungen hätte löschen müssen, läge sie höher – aber um die is ned schad…). Und auch wenn auf einem anderen Forum ein Hansel unter dem Pseudonym „NocheroSoy“ mir dies immer wieder mit der Kreativität einer gesprungenen Schallplatte vorwirft:

Ja, ich möchte gelesen werden – und ich freue mich riesig, dass dies so ist!

Und wenn man inzwischen bei „Google“ das Suchwort „Tango Blog“ eingibt, steht an erster Stelle „Gerhards Tango Report“ (und nicht mehr „Tangoplauderei“) – ja, wer hätte das vor fünf Jahren gedacht…

Derzeit gibt es nur noch zwei deutschsprachige Tangoblogs, auf denen aktuell Beiträge erscheinen: meinen und den hier kürzlich besprochenen „Tangoblogblog“. Die meisten der Formate werden in englischer Sprache verfasst – auch eines, welches eine deutsche Tangolehrerin herausgibt: Melina Sedós „two cents“ – aber was tut man nicht alles, um „international“ zu erscheinen, selbst wenn man dann mit deutschen Kommentatoren auf Englisch parlieren muss.

Die Dame hat dort vor geraumer Zeit (die Posts erscheinen seit Längerem nur sehr sporadisch) einen interessanten Artikel zu den Códigos – Entschuldigung, „tango rules“ veröffentlicht, den ich sehr interessant finde:


Melina beschwert sich dort eingangs über gewisse Anarchisten, welche die Verfechter dessen, was sie irrtümlich „sozialer Tango“ nennt, als „Nazis titulierten und fänden, der Tango brauche keine Regeln. Dazu fallen ihr einige soziologische Grund-Sätze ein, welche auf „alles im menschlichen Zusammensein braucht Regeln“ hinauslaufen. Daher seien die von ihresgleichen propagierten Aufforderungs- und Bewegungseinschränkungen richtig.

Nun meine ich nicht, dass es bei diesem edlen Tanz Naturen gibt, welche allgemein oder im speziellen Zusammenhang alle Konventionen des sozialen Miteinanders leugnen, folglich der Meinung wären, man dürfe dabei Rivalen abstechen (gab’s schon mal) oder wenigstens aufs Parkett kacken. Aber so einfach ist es natürlich selbst gemäß Sedó nicht: Es gäbe einerseits universelle Regeln, andererseits aber auch welche, die sich nur auf einen bestimmten Kontext bezögen: „Rules therefore also help define group identities.“ Da hört man dann die saarländische Nachtigall schon etwas deutlicher trapsen: Tango hat sich folglich von dem abzuheben, was in unserer Gesellschaft auf Tanzveranstaltungen sowieso als sozial adäquat angesehen wird.

Zum Cabeceo liefert sie hierfür ein schönes Beispiel: Die sonst übliche verbale Aufforderung genüge beim Tango eben nicht, da es dabei halt sehr viel intimer zugehe. Nun, angeblich hat sie ja früher Standard getanzt, dann könnte sie mir sicher erklären, ob sie den dort üblichen Beckenkontakt weniger intim findet als die Tuchfühlung im oberen Bereich oder gar den weiteren Abstand beim Tango nuevo. Aber: Chacun a son goût…

Der wichtigere Erklärungsbedarf wartet allerdings in der Frage, welche Autorität(en) beim Tango befugt sind, solche über das normale Tanzverhalten hinausgehende Laws und Orders zu dekretieren. In dem Zusammenhang liefert sie uns eine nette Mär:

Schon länger gibt es berechtigte Zweifel, ob die heutigen „traditionellen Milongas“ samt Código-Gewese wirklich auf Tango-Urzeiten zurückgehen (siehe mein Beitrag „Erfundene Traditionen“) – eher scheinen sie eine Entwicklung der letzten zwanzig Jahre zu sein. Melina packt nun den Stier bei den Hörnern: Ja, diese festgeschriebenen Regeln habe es so früher gar nicht gegeben, weil – festhalten, jetzt kommt’s – die einstigen Milongueros in Argentinien sich von selber zu benehmen gewusst hätten. 
 
Dann aber seien – raten Sie mal – die ausländischen Touristen „wie Elefanten im Porzellanladen“ in die heiligen Tangostätten eingebrochen. So wären die Veranstalter gezwungen gewesen, das Chaos durch feste Regeln zu begrenzen (ohne hoffentlich das Geld zurückzuweisen, welches der Tourismusfaktor Tango in die gebeutelten Kassen der argentinischen Wirtschaft spült). Auch Mirada & Cabeceo habe es früher in dieser strikten Form nicht gegeben – sie seien eingeführt worden, weil Europäer und Nordamerikaner meinten, jede Frau in Buenos Aires sei verpflichtet, mit ihnen zu tanzen!

Und daher müssen sich offenbar die Encuentros im Hunsrück und anderswo vor der Invasion der Touristen schützen… Nicht derjenige ist also schuld, welcher andere durch überzogenes und lebensfernes Kasperltheater schurigelt, sondern die Betroffenen haben sich das selber zuzuschreiben! Mir ist ja als Satiriker Zynismus nicht eben fremd, aber bei dieser Dosis werde ich allmählich nüchtern…

Nun könnte man natürlich den Spieß, mit dem man andere piesackt, auch einmal umdrehen: Seit einiger Zeit erleben wir ja hierzulande eine „Invasion“ argentinischer Lehrer, Tänzer und Veranstalter sowie ein daraus resultierendes „Chaos“ von Kursen, Workshops und Showtänzen. Es juckt mich in den Fingern, einmal ein paar Códigos für unsere argentinischen Gäste zu formulieren (wozu ich natürlich nicht befugt bin, aber das ist ja wohl wurscht):

·         Bedenken Sie bitte, dass in Deutschland der alte Hotel-Grundsatz gilt: „Alles, was sich bewegt, wird gegrüßt – und was sich nicht bewegt, wird geputzt.“ Halten Sie sich wenigstens an die erste Hälfte und laufen Sie nicht mit glasigem Blick an Gästen vorbei, die zum x-ten Mal Ihre Milonga besuchen!
·         Deutsch zu lernen dürfte Ihnen nicht schwerer fallen als Syrern und Afghanen. Schon nach drei Monaten Unterricht sollten Sie (je nach Bundesland) ein herzliches „Grüß Gott“ oder „Guten Abend“ hinbringen.
·         Die hispanisierten Ausdrücke für Códigos oder Tanzfiguren behalten Sie hingegen unbedingt bei – sonst fehlt der hierzulande zwingend erwartete Exotikfaktor!
·         Nach einem hierorts unausrottbaren Klischee ist der Ausweis Ihrer Lehrbefähigung ein Pferdeschwanz. Sollten Sie den beim besten Willen nicht hinkriegen, hilft nur die Senkung der Kursgebühren!
·         Für germanische Tangueras ist es der Höhepunkt ihres Tangolebens, einmal mit einem echten Argentinier zu tanzen. Sorry, da müssen Sie durch, anstatt sich in die hinterste Ecke einer Milonga zu verziehen und dort stundenlang tatenlos vor sich hinzustarren oder nur mit Ihrem mitgebrachten „Latino-Schneckerle“ zu tanzen.
·         Obwohl es vielleicht anders aussieht: Manche deutsche Frauen können von alleine stehen oder sogar selbstständig einfache Tanzfiguren ausführen. Es ist somit nicht erforderlich, sie chronisch an Ihre Heldenbrust zu klemmen und wie eine Gummipuppe übers Parkett zu ziehen!
·         Sollten Sie Tango unterrichten: Es gibt bei uns ein Phänomen, welches man als „Emanzipation“ bezeichnet. Erwecken Sie also nicht den Eindruck, eine Tänzerin müsse sich völlig willenlos der männlichen Führung ausliefern!
·         Und seien Sie vorsichtig: Eine Frau per Mirada gnadenlos niederzustarren könnte hierzulande als Zudringlichkeit missverstanden werden und Ihnen von ihr oder dem eifersüchtigen Partner einen Satz Ohrfeigen einbringen. Fordern Sie lieber nach deutscher Manier mit dem freundlichen Satz auf: „Willst du dir den Abend versauen und mit mir tanzen?“

Das Schönste ist aber: Ich brauche ja keine „Tango-Spezialregeln“, somit auch diese nicht. Also macht’s doch, was ihr wollt – falls ich es ebenso darf!

So, dies war, dem Trend entsprechend, mein erster Blogtext mit englischer Überschrift: „Two years, two cents“ – ich hätte es auch kürzer fassen können:

„It takes 2 to tango."

An der Zahl scheint was dran zu sein… 

P.S. Gestern waren wir beim Tango in der "Oldtimerfabrik" in Ulm. Dort spielte - auf Spendenbasis - das Gabriel Merlino Quartett": vier junge Musiker (Bandoneón, Geige, Klavier und eine Sängerin). Unglaublich, mit welcher Virtuosität und Dynamik vorwiegend alte" Titel interpretiert wurden! Wer da behauptet, zeitgenössische Tangomusik sei untanzbar" oder von geringerer Qualität, hat was auf den Ohren oder an den Füßen. Respekt für Tradition und Freude am Neuen sind selbstredend kompatibel.

So soll's weitergehen - daher wird dieses Blog auch im neuen Jahr genug Lobendes enthalten können!

Kommentare

  1. Erst einmal: Herzlichen Glückwunsch zum Zweijährigen.
    Bin mal wieder im "Nur Smartphone-Modus", daher Telegrammstil: Sehr schöner Post zu Authentizität. Touri-Invasion im Hunsrück. Gute Idee das mit den Codigos für argentinische Tanzlehrer. Nur was Kurzes Ernstes: Ich glaube, an Vios These, Tango ist intensives Geschlechterrolle erleben, ist was dran, d.h. 12 Minuten Eintauchen in die gute alte Zeit gerade für "Powerfrauen". Meine eigene Feldforschung zeigt ähnliche Resultate.

    AntwortenLöschen
  2. Danke vielmals!

    Ich kenne diesen Text von Vio nicht genau - aber reduziert sich die "weibliche Geschlechterrolle" auf Passivität und Objekt sein?

    Sollte man mal ausführlich diskutieren... vielleicht auf der Basis Deiner Feldforschung?

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.