Für mehr Tango im Neo
„‚Klassisch‘ oder ‚neo‘ wird immer mehr zur Glaubensfrage
(einschließlich der entsprechenden Kriege) – schon deshalb, weil viele ‚Meister
der Silberscheiben‘ entweder wenig von dem einen Segment verstehen oder vom
anderen. (…)
Aufschlussreich ist, dass beide Glaubensgemeinschaften einen gleich großen Bogen um den ‚Tango nuevo‘ des genialen Astor Piazzolla machen, angeblich, weil dieser ‚nicht tanzbar‘ sei – anscheinend im Gegensatz zu den gerne genommenen Sphärenklängen aus dem Wellness-Hotel (‚Fahrstuhl-Musik‘) (…)
Daneben legen DJs mit ‚experimentellem‘ Anspruch gerne sogenannte ‚Non-Tangos‘ auf, damit die Tänzer/innen beweisen können, dass man zu Foxtrott, Menuett und Mambo notfalls auch Tangoschritte hinquälen kann …“
Aufschlussreich ist, dass beide Glaubensgemeinschaften einen gleich großen Bogen um den ‚Tango nuevo‘ des genialen Astor Piazzolla machen, angeblich, weil dieser ‚nicht tanzbar‘ sei – anscheinend im Gegensatz zu den gerne genommenen Sphärenklängen aus dem Wellness-Hotel (‚Fahrstuhl-Musik‘) (…)
Daneben legen DJs mit ‚experimentellem‘ Anspruch gerne sogenannte ‚Non-Tangos‘ auf, damit die Tänzer/innen beweisen können, dass man zu Foxtrott, Menuett und Mambo notfalls auch Tangoschritte hinquälen kann …“
(Gerhard Riedl: „Der große Milonga-Führer“, 2010)
Endlich – fünf Jahre
später – hat ein weiterer Autor dieses Thema aufgegriffen (Tangodanza 1/2015,
S. 68-69): Der DJ und langjährige Tangotänzer Volker Marschhausen gibt
dem, was uns auf „modern“ aufgestellten Milongas allzu oft geboten wird, den
zutreffenden Titel „musikalischer Gemischtwarenladen“. Als „Non Tango“ müsse in solchen Fällen – je nach den meist aus der
Jugendzeit des DJs stammenden Präferenzen – so ziemlich alles aus dem Spektrum
zeitgenössischer Kompositionen herhalten: von Folk, Country, Latin, House usw. bis hin zu Blues, Rock und Soul, manchmal sogar Klassik.
Erstaunlich offen und
klar nennt Marschhausen das Label „Non Tango“ ein
Oxymoron, also einen Begriff, der sich wie z.B. „vogelwild“, „saugut“ (oder
„Encuentro-Tänzer“) aus zwei einander ausschließenden Teilen zusammensetzt. Die
Metrik bleibe das einzige Verbindungsglied zum Tango, alles weitere sei der
Improvisationsfähigkeit der Tanzenden überlassen: „Der musikalische Gemischtwarenladen wird ihnen vor die Stilettos
gekippt in der Hoffnung, dass ihre Fähigkeiten schon ausreichen werden, um das
Musikangebot tänzerisch umzusetzen.“ Natürlich kann man auf ein Menuett, da
im Dreivierteltakt gehalten, einen Tangovals tanzen (oder auf eine Gavotte, da
meist im Vierviertel, einen schnellen Tango) – das war’s dann aber auch schon.
Einfacher gesagt: Non
Tango ist – wie der Name schon sagt – kein Tango. Dies stört allerdings das
Publikum bei „Neolongas“ kein
bisschen, welches bei einer „weichgespülten
Alchemie aus Groove und Melodieführung“ (Marschhausen) begeistert die
Tanzfläche stürmt und ein solches Ragout mit Tangofiguren ausstattet. Auch die
Ursache hierfür benennt Marschhausen
unverblümt: „Null-Tango-Events“ würden
„der Komplexität des Tango ausweichen und
einen Qualitätsverlust in musikalischer und letztlich auch tänzerischer
Hinsicht in Kauf nehmen“. Mit schlichteren Worten: „Gmpf… Gmpf…“ ist halt
auf dem Parkett sehr einfach umzusetzen.
Der Autor zieht sogar
einen gewagten, aber richtigen Vergleich zwischen dieser Art der Beschallung
und der bei „Klassik-Fundamentalisten“:
Der Abstand zu Neotango oder gar Tango nuevo sei in beiden Fällen ähnlich groß,
die jeweiligen DJs blieben dem Musikgefühl ihrer Jugend respektive den
historischen Aufnahmen verhaftet – und tänzerisch ist halt „Gmpf… Gmpf…“ in
etwa so anspruchsvoll wie „Schrumm… Schrumm“. Tragischerweise bekommt man noch
dazu die Langeweile inzwischen eher getrennt serviert und darf sich dann einen
ganzen Abend lang mit nur einem Stil vergnügen. Dabei wären die alten Aufnahmen und Non Tango am ehesten verdaulich, wenn man sie zusammen anböte...
Nicht nur deshalb bin
ich beim Besuch „moderner“ Milongas oft hin- und hergerissen: Einerseits
genieße ich es natürlich, einmal eine Nacht auf die einschlägige „De Angelis-Vals-Tanda“ („Sonar y nada mas“, „Remolino“ etc.) und
anderes sonst Unvermeidliches verzichten zu dürfen – und dafür ist mir fast
jedes moderne Musikstück als Alternative recht. Außerdem kann es richtig Spaß
machen, einmal den „Pink Panther“ oder
Rainhard Fendrichs „Schickeria“ zu
vertanzen – doch spätestens nach zwei Stunden dürfte es dann doch einmal wieder
Tango sein, selbst eine Tanda mit Francisco
Canaro würde ich – durchgenudelt von Lounge-Klängen – ausnahmsweise nicht
verschmähen!
Was mich noch mehr
ärgert: Eine solche Beschallung prägt dann bei Neulingen das Bild vom „modernen
Tango“, obwohl sie davon meilenweit entfernt ist – und unsere Kollegen von der
Abteilung „Traditionspflege“ dürfen sich im Internet am falschen Objekt wieder
einmal am „Verfall des reinen Tango“ abarbeiten. Wahrlich, die deutsche Szene
marschiert zwar in gegensätzliche Richtungen, beide führen allerdings nicht zum
Tango des 21. Jahrhunderts!
Im Ernst: Es gibt
derartig viel dynamische, spannende und zum Tanzen animierende moderne
Tangomusik – diese erschöpft sich beileibe nicht nur im Namen Piazzolla, sondern hat sich bereits
mindestens eine Generation weiterentwickelt. Kürzlich postete der Tanguero
Thomas Kröter in verschiedenen Foren zu einer „50:50-Milonga“ in Berlin:
„gepflegte traditionals, aber vor allem: vorwiegend akustische neos und nur wenig weichgespülte nons. als cortinas: beatles. der höhepunkt: erst pugliese, sorgfältig intensitätsgesteigert. danach 3 piazzolla (incl. gerry mulligan) und zum runterkommen: fröhlicher rodriguez. mag für manchen schräg klingen. ist es auch. aber wegen solcher musik und solcher kombinationen bin ich vom ballroom zum tango gewechselt. andrenalin&endorphin pur. danke dj für deinen mut - und bitte: wiederholung!“
Mich freut es natürlich, dass man jetzt auch in der deutschen „Tangohauptstadt“ auf eine Musikmischung kommt, die ich 2007 bereits beim „Tango an der Ilm“ in Pfaffenhofen (also „hinter den sieben Bergen"), völlig unbelästigt von Tangoprominenz und -experten, aufgelegt habe…
„gepflegte traditionals, aber vor allem: vorwiegend akustische neos und nur wenig weichgespülte nons. als cortinas: beatles. der höhepunkt: erst pugliese, sorgfältig intensitätsgesteigert. danach 3 piazzolla (incl. gerry mulligan) und zum runterkommen: fröhlicher rodriguez. mag für manchen schräg klingen. ist es auch. aber wegen solcher musik und solcher kombinationen bin ich vom ballroom zum tango gewechselt. andrenalin&endorphin pur. danke dj für deinen mut - und bitte: wiederholung!“
Mich freut es natürlich, dass man jetzt auch in der deutschen „Tangohauptstadt“ auf eine Musikmischung kommt, die ich 2007 bereits beim „Tango an der Ilm“ in Pfaffenhofen (also „hinter den sieben Bergen"), völlig unbelästigt von Tangoprominenz und -experten, aufgelegt habe…
Aber es ist ja für
eine Bekehrung nie zu spät. Insofern unterstütze ich gerne Volker Marschhausens Appell an „aufgeschlossene
DJs“: „für mehr Mut zur Innovation,
Offenohrigkeit, Neugier, Nonkonformismus und Initiative. Für mehr Neo im
Tango.“
Das sowieso – doch mehr
Tango im Neo wäre auch nicht schlecht…
P.S. Ich hoffe, ich
habe den Autor des Tangodanza-Artikels durch mein Lob nun nicht um jegliche
Reputation gebracht. Sicherheitshalber weise ich darauf hin, dass nur die kursiven Zitate aus seinem Text stammen,
sonstige bösartige Anspielungen jedoch mein Werk sind.
Nontango, woher definiert dieses Wortspiel sich? Das ich Tango auf Jive tanze? Wenn ich Samba auf einen Foxtrott tanze ist es dann eine Nonsamba ? Wäre ich bei solchen Kombinationen nicht besser auf einem Tanzschulevent oder Disko als auf einer Milonga aufgehoben? Oder besser nicht, weil dann diese Peinlichkeiten auffallen würden ?
AntwortenLöschenImmer diese Ver(i)wirrungen.
Gruesse
Bernd Corvers
Nun, ich habe dieses Wort ja nicht erfunden (und hätte es auch nicht). In einer normalen Tanzschule ergibt sich eine solche Dialektik nicht - da gibt's für jeden Tanz die vorgeschriebenen Schritte! Am ehesten passt so ein Oxymoron tatsächlich zum Tango, der ist voll von Antagonismen (oder "Verwirrungen").
LöschenDeshalb mag ich in diesem Metier nicht mit strengen Regeln und Definitionen hantieren - wenn das Gros der Musik auf einer Milonga Tango (in seinen vielen Spielarten) ist, bin ich schon zufrieden.
Übrigens: Wenn man hierzulande in einer Tanzschule Samba tanzt, hat das mit Musik und Bewegung brasilianischer Eigenart wenig zu tun. Überraschenderweise bricht dort kein Streit über die "Original-Copacabana- Samba" aus (aber das kann ja noch kommen).
Beste Grüße, Gerhard Riedl
Hallo Leute
AntwortenLöschenWenn ich das als Musiker sagen darf: die Imrovisation von allen möglichen Bewegungen in allen möglichen Tempi und allen erdenklichen Abwechslungen und Pausen macht eben den Tango Argentino oder besser das Tanzsystem Tango Argentino so universell auf (fast) alle Rhythmen und Musikrichtungen (grundsätzlich) anwendbar.
Fast könnte man sagen, es ist so flexibel wie Modern-Dance, nur mit mehr oder weniger aufrechter Achse und meist in Umarmung.
Während das bei einem festgefügten Sambaschritt oder bei einem Polkaschritt eben wegen deren eingeschränktem Repertoir aber vor allem wegen der Deckungsgleichheit zwischen den Akzenten der Schritte und den charakteristischen Rhythmen dieser Tänze kaum möglich ist. Geht auch teilweise, aber nicht so universell. Die übliche vereinfachte Samba der Tanzschulen ist vielleicht auch eher eine aufgebrezelte Polka. Ich misch das öfter auf Bällen.
So ergibt sich der Effekt, daß das Tango-Argentino-Tanzsystem auf so unendlich viel Musik anwendbar ist: gut und ansprechend, mitreißend und einfühlsam oder manchmal etwas weniger davon. Aber immer mit großer Entdeckerfreude und mit ungeahnten Ergebnissen und Erlebnissen!
Herzliche Grüße vom Traunsee
Peter Baumgartner
....natürlich "Improvisation".....
AntwortenLöschenLieber Peter,
Löscheneine gute Idee hast Du da beschrieben!
Sicherlich bietet der Tango in Punkto Improvisation mehr Möglichkeiten der Anpassung an verschiedenste Musik - und das auch auf engstem Raum. Ich merke das immer wieder auf "normalen" Bällen: Dir als Österreicher muss ich ja nicht erklären, wie nervig es z.B. beim Wiener Walzer ist, wenn "betonierte Vollpfosten" keinerlei Raum zum Vorwärtstanzen lassen - mit dem Bewegungsmuster des Tangovals kommt man da besser zurecht.
Übrigens verfügen "Gelegenheitstänzer" meist über zwei Bewegungsmuster: einen irgendwie auf Dreierrhythmen passende "Walzerschritt" und eine mit geraden Taktmustern kompatible "Foxtrott"-Variante. Die wird dann auch z.B. auf eine Rumba getanzt, die damit zum "Non-Foxtrott" wird. Es gibt also im Standard und im Tango argentino durchaus viele Parallelen.
Allerdings - und ich komme gerade von so einer Milonga - lädt nicht jeder Non-Tango zur Improvisation ein. Oft sind es halt Stücke, bei denen drei Harmonien, elektronisch aufgebrezelt, sich in öder Wiederholung über fünf Minuten hinquälen. Da bieten mir traditionelle Einspielungen oft mehr Anreize.
Herzliche Grüße, Gerhard
Ja, natürlich, das war nur der tanztechnische Hinweis. Wie alle Musik reichen auch alle "Nicht-Tangos" und das ist ja per Definitionem alles was nicht Tango ist, von fad über anregend bis begeisternd fürs Tanzen.
AntwortenLöschenAber so ein richtiges Italienisches Schmalz mit viel Schmelz und Rhythmus-Akzenten ist für mich traumhaft im Vergleich zu den ausgelutschten EDOs.
Herzlich, Peter
Grade bei Facebook aufgelesen:
AntwortenLöschenThomas Kröter: "zu gerhard r. wollte ich eigentlich nichts mehr sagen, höchstens: mekka, buenos aires, pfaffenhofen... oder umgekehrt?"
Na wat denn, da fehlt doch Balin, wa?