"Die Hölle, das sind die anderen" (Jean-Paul Sartre)
Eigentlich
sollte hier zum Jahresbeginn, wie es
sich gehört, etwas Positives stehen: ein hemmungsloses Lob an Volker Marschhausen für seinen Artikel
in der neuen Ausgabe der Tangodanza.
Doch dies muss noch warten, bis ich über das zurückliegende Jahresende
berichtet habe und sich mein diesbezüglicher Gallefluss wieder normalisiert
hat.
Da
wurden wir vor Wochen schon zu einer Silvestermilonga eingeladen. Von etlichen
zurückliegenden Besuchen kennen wir die dortige Szene und freuten uns
insbesondere auf das sehr nette Gastgeberpaar, dem es bisher stets gelang,
seinen Veranstaltungen ein lockeres, sympathisches Gepräge zu verleihen. Den
endgültigen Ausschlag, uns trotz der winterlichen Straßenverhältnisse die 270
km-Fahrt anzutun, gab die Ankündigung der Musik. Die Veranstalterin selber
würde auflegen: „Tandas mit Tango/ Nuevo/
Non“. Wie schön – von den zurückliegenden Milongas wussten wir, dass dies
stets Streifzüge durch hundert Jahre Tangomusik mit wunderschönen, originellen
und dynamischen Titeln verspricht.
Bei unserem Eintreffen saß allerdings jemand
anderes vor dem Computer. Den kennen wir auch, und zwar schon aus Zeiten, als
er noch Sachen wie Esteban Morgados „Cinema Paradiso“ auflegte.
Danach muss dann irgendwann ein Blitz vom Himmel gefahren sein (siehe auch „Damaskuserlebnis“ des Saulus, Apg. 9,1–43), und er ward auf wundersame
Weise zum Anhänger des traditionellen Tango bekehrt (inklusive
„Tangolehrerausbildung“ plus DJing, seffaständlich). Bereits die Klänge von „Bahia Blanca“ aus der bis zum mentalen
Dekubitus abgenudelten Di Sarli-Endlosschleife
verhießen mir: Das würde ein netter Abend werden.
Ich habe dann – nach über 2500
Milongabesuchen – mit einer Tradition gebrochen und mich mit einer kritischen
Anfrage zur Musik an die Veranstalter gewandt. Von diesen erfuhren wir, der
nunmehrige DJ habe sich ihnen schon ziemlich massiv „anempfohlen“ – und
offenbar zog schließlich das Argument, sie könnten sich viel besser um ihre
Gäste kümmern, wenn ihnen die Arbeit des Auflegens abgenommen werde. Bei aller
Sympathie: Sollte man eine solch drastische Neuorientierung der angebotenen
Musik nicht den Besuchern vorab per geänderter Einladungsmail mitteilen? Wir
hätten dann jedenfalls unsere Zusage wieder storniert!
Es sei zugestanden, dass der DJ in der Folge
zwar – ob nun auf meine Intervention hin oder gar freiwillig – einige moderne
Titel ins Langweiler-Programm einstreute und die Gastgeberin angeblich
irgendwann später noch etwas von ihrer Musik bieten wollte, aber für mich gilt
da ein Satz, den der legendäre Mathias
Beltz einmal über Opfer von Landminen prägte: Man könne zwar anschließend
noch auf den Arschbacken weiterlaufen, aber die Stimmung sei irgendwie dahin… Da
freut man sich auf Schweinerns mit Kraut und kriegt dann ein Tofuwürschtl mit
Hirsebrei vorgesetzt… Sinnigerweise prangte an der Tür des dortigen
Pfarrzentrums noch die Ankündigung, das Abbrennen von Feuerwerkskörpern sei auf
dem Kirchengelände untersagt. Was’n jetz‘ noch? Mitternachtssekt ohne Alkohol
und Bitzel?
Feuerwerk plus Schampus kriegten wir dann
trotzdem, allerdings auf der heimischen Terrasse, da wir uns rechtzeitig
diesem Etikettenschwindel entzogen hatten. Vorher bewegten wir uns noch zwei
Stunden intensiv auf dem Parkett: Vernünftigerweise muss man ja im Alter auf
Fitness bedacht sein, wenn mich das Ganze auch an die Aerobic-Welle meiner
Jugendzeit erinnerte: nette Aktionen zu einfältiger Beschallung.
Ich bin des trocknen Tons nun satt – muss
wieder recht den Teufel spielen: Dieser Wahnsinn hat ja inzwischen Methode.
Nicht zum ersten Mal durfte ich erleben, wie die Damen und Herren
Traditionalisten übers Land ziehen und versuchen, jede noch halbwegs offene und
undogmatische Tangoveranstaltung in die Krallen zu bekommen. Die Palette reicht
von sanftem Locken und leichtem Druck bis hin zum heftigen „Einnorden“ zumal
unerfahrener DJs, welche in ihrer Unbekümmertheit einfach auflegen, was ihnen
gefällt, und dann von gestrengen „Experten“ belehrt werden, dies sei „fei' koi
richtiger Tango ned“. Dass dies inzwischen schon bei älteren, erfahrenen
Veranstaltern verfängt, verbessert meine Seelenlage nicht.
Vor geraumer Zeit beispielsweise warnte ich
in einer mir gut bekannten Szene vor der beabsichtigten Gründung eines
Tangovereins. Mein Hauptargument: Bislang herrschte eine nur mäßig geordnete
Vielfalt – jeder, der wollte, konnte einmal auflegen, so war für alle
Geschmäcker etwas dabei und – o gar kein
Wunder, diese Melange lockte sogar jüngere und/oder gute Tänzer/innen an.
Inzwischen ist der neu gegründete Laden fest in konservativer Hand, es dudelt
weitgehend die übliche Rentnermusik, kreativere Teilnehmer ziehen sich zurück:
Wozu braucht man eine Haltung, wenn’s ein Posten auch tut? Pikanterweise
durften zur Vereinsgründung noch Argumente herhalten wie: „Dann können wir endlich ohne Angst vor der GEMA öffentlich zu den
Milongas einladen“ und „So sind wir
als Veranstalter gegen Unfälle abgesichert“. Bis heute ist eine solche
Werbung allerdings ausgeblieben – und Verletzungen sind bei der vorherrschenden
Tanzweise eh nicht zu befürchten…
Die gespenstische Wandlung, die sich derzeit
im Tango hierzulande vollzieht, wurde uns gestern wieder einmal deutlich vor
Augen geführt. Verglichen mit früheren Milongas hat sich die Besucherzahl mehr
als verdoppelt, aber auch qualitativ verändert. Es herrschte eine Atmosphäre,
die zwischen „Silvesterball des Rotary-Clubs“ und „Einquartierung von zwei
Rentnerbussen im Pfarrsaal nach Steckenbleiben am Irschenberg“ lag. Wahrlich,
die einstige Szene eigenwilliger, unangepasster „Freaks“ ist erwachsen
geworden. Ich aber nicht – o je, was mach‘ ich bloß?
Insofern galt gestern hinsichtlich der Musik
wieder einmal die alte Künstlerregel, nach der jedes Publikum die Vorstellung
bekommt, die es verdient. Zudem bin ich möglicherweise auch persönlich
voreingenommen: Pikanterweise war es nämlich der beschriebene DJ, welcher
sintemalen auf mein erstes Tangobuch (das ich ihm persönlich und portofrei lieferte) sofort mit einer negativen Rezension bei
„Amazon“ reagierte: „Fazit: Es hat sich
in der Szene viel getan. Reflektion“ (sollte wohl „Reflexion“ heißen) „über den eigenen Unterrichts- und Tanzstil
ist Thema in fast allen Schulen. Das ist dem Autor leider verborgen geblieben.
Schade auch.“ Nicht verborgen blieb dem Autor allerdings dank kundiger Hilfe,
wer sich unter dem damaligen Pseudonym „Tangotänzer“
verbarg. Meine E-Mail an den Verfasser blieb natürlich unbeantwortet,
allerdings wurde alsbald der Deckname durch den wirklichen ersetzt – und nach
geraumer Zeit die Buchbesprechung ganz gelöscht.
Vielleicht könnte man sich irgendwann sogar zu
Reflexionen über den Umgangsstil durchringen. Wahrlich, es hat sich in der
Szene viel getan. Schade auch.
Gut, dass du uns gewarnt hast, zwar aus der Zukunft, aber auch das funktioniert. Wir wollten auch nach Rosenheim, haben's aber dann abgesagt und uns mit der Passage aus "Alice im Wunderland" getröstet: "Was feierst du heute?" "Ich feiere Nicht-Geburtstag." "Aber das ist ja 364-mal im Jahr!" "Umso besser, so komme ich öfter zum Feiern und bin auf den einen Tag nicht angewiesen." In diesem Sinn. Weiter schönes Nicht-Sylvesterfeiern!
AntwortenLöschenGut, dass Physiker das mit dem Zeitstrahl eher unverkrampft sehen! Aber im Endeffekt haben wir ja zwei Stunden Gesundheitstraining absolviert und dieses dann per Schampus zu Hause wieder neutralisiert. Die Idee aus "Alice im Wunderland" hat was: Feiere die Feste, auch wenn sie nicht (ge)fallen. Danke für diese Perspektive!
AntwortenLöschen