Tango oder Etikette



„Das Wort Etikette stammt ursprünglich von angehefteten Zetteln (frz. etiquette): Am französischen Königshof wurden Aufschreibzettel verwendet, auf denen die Rangfolge der am Hofe zugelassenen Personen notiert war (…) Das Wort wird gerne mit den Begriffen: Zeremoniell, diplomatisches Protokoll und Umgangsformen gleich- oder in Verbindung gesetzt. Die Gleichsetzung mit Umgangsformen ist jedoch problematisch. Etikette bezeichnet nämlich im Grunde nur die Umgangsformen, die der offiziellen Förmlichkeit willen dargeboten werden.“
(Quelle: Wikipedia)

Ich tanze nun schon fast fünfzig Jahre, kenne gute und schlechte Tanzschulen, Tanzsportvereine, war zu Gast auf  Bällen, Übungsabenden jeglicher Couleur – und natürlich auch auf über zweieinhalbtausend Milongas. Ich habe dabei jede Menge Abstrusitäten erlebt, doch noch nie musste ich mir eine Unterrichtung darüber anhören, wie ich mich auf dem Parkett zu benehmen hätte.

Bis zum heutigen Tag – da nämlich überkam es den Veranstalter und DJ der Augsburger „Milonga Central“, zur Halbzeitpause seinen Gästen eine Belehrung zur korrekten Benutzung der Tanzfläche zuteil werden zu lassen. Unter dem Titelbegriff „Tango-Etikette“ fielen da Äußerungen wie: Bewegung nur im Gegenuhrzeigersinn, nicht überholen, Tango sei kein „Leistungssport“ (des Sermons Rest kann man auf bestimmten Blogs im Internet nachlesen, wo seit Jahren Menschen, die am Tango offenbar keinen Spaß haben, diesen auch anderen verderben wollen). Live mitbekommen habe ich eine solche Suada allerdings noch nie – Hilfe, ich war versehentlich auf einem Encuentro gelandet, zu dem man mich auf Facebook sogar eingeladen hatte!

Da ich nicht die mindeste Lust verspürte, mich an solche Merkverslein eines "Central-Kommittees" zu halten, haben wir die Veranstaltung sofort danach verlassen. Obwohl auf der Website des Gastgebers ein solches Regelwerk nicht erwähnt wird (da ist sogar von Neotango, Salsa, Rock’n Roll und ähnlich Entartetem die Rede), kann er natürlich trotzdem bestimmen, wie er es haben will: Ob er nun den Gleichschritt linksrum anordnet oder nur Besucher mit roter Bommelnase zulässt – er hat ein Recht auf jegliche Dämlichkeit.

Und wenn einem semantischen Unglückswurm hierzu auch noch ein Wort wie „Etikette“ einfällt, das sicherlich dem höfischen Zeremoniell entstammt und bestimmt nicht dem Tanz aus den Slums der Vorstädte, so sagt dies nichts über den Tango, aber viel über den Sprecher. Mir würde in seiner Rolle eher das Wort „Gastfreundschaft“ in den Sinn kommen, also das Bemühen, den Abend für die Besucher möglichst angenehm zu gestalten. Oder wie würden Sie auf einer Party reagieren, wenn der Hausherr sich zu späterer Stunde zu einer Belehrung über die „Etikette“ bei seinem Fest aufschwingt und eventuell fehlende Krawatten oder zu hohen Getränkekonsum moniert? Würden Sie sofort gehen oder nur beschließen, einer weiteren Einladung nicht mehr zu folgen? Um das Gegenargument gleich vorwegzunehmen: Obwohl ich niemand gerempelt oder sonstwie genötigt habe, geht es ja darum, die „braven“ Besucher vor Rowdies wie mir zu schützen. Und bekanntermaßen ist hierzulande Schutz mit dem Entzug von Freiheit untrennbar verbunden… Nur erzähle mir keiner, dass solche Anweisungen "zum Wohl der Gäste" ergingen - im Vordergrund steht der Genuss, anderen seine höchstpersönlichen Vorstellungen aufzwingen zu können. Die Pharisäer proben den Anstand.

Und wenn schon Etikette: Könnte man dann auch einmal Garderoben-Verhältnisse organisieren, bei denen man hinterher nicht gezwungen ist, seinen Schuhbeutel aus einem Berg von unsäglichen (und auch so riechenden) Fußbekleidungen herauszuwühlen? Wäre es nicht eine gute Idee, einmal nach Musikwünschen der Gäste zu fragen, anstatt ausschließlich die eigenen Lieblingstitel flächendeckend durchzusetzen? Muss man Vorstandsposten in gemeinnützigen Vereinen mit dem Verscherbeln von Tangoreisen koppeln? Aber vielleicht ist „Etikette“ ja doch nur das Schildchen an der Ware, auf dem der Preis steht. Und selbst Etikette ist mehr als ölige Freundlichkeit, hinter der sich knallhartes Anspruchsdenken verbirgt: Malice hinter den Spiegeln…

Doch das Schönste am Tango sind seine Kontraste: Einige Tage vor diesem Ausflug in die „High Snobiety“ des Tango waren wir zu Gast auf einem kleinen Übungsabend in einem Ballettstudio der Vorstadt, also in Germering: Knapp 15 Gäste, ein winziges Parkett, einige Plastikstühlchen, an der Wand ein weißes Tutu. Der Chef selber unterrichtet und legt so auf, dass jeden „richtigen“ DJ das Grausen packte: ohne „Mac“, mit einem kleinen Stapel CDs, aus denen er – offenbar eher intuitiv – die Stücke heraussucht. Da kann nach einem Vals schon mal eine Milonga kommen, nach einem D’Arienzo ein Titel von Otros Aires. Und doch macht die Musik immer wieder neue Lust auf’s Tanzen, beweist, wie wenig der Tanz vom La Plata eine Kopfsache ist: Du musst es spüren – und das taten alle Gäste, völlig unabhängig von ihren technischen Fähigkeiten. Ich glaube, wenn der Veranstalter sich zu einer Rede über „Etikette“ aufgeschwungen hätte, wäre er von den Stammgästen mit der Bemerkung gestoppt worden: „Wolfgang, jetz‘ kummst in Schmarr’n nei‘!“ Stattdessen nach zwei Stunden: „Geht ihr noch mit in die Pizzeria? Kommt bald mal wieder!“

Und daher, meine hoch verehrten, sich als „Lordregelbewahrer“ etikettierenden Gesinnungstänzer: Ihr macht da etwas zu einer historisch begrenzten Musikauswahl, durchaus mit Tangoschritten, in einer mit Tango kompatiblen Haltung, es ist eine täuschend ähnliche Imitation des Tanzes der Vorstadt – nur, Tango ist es nicht. Dazu würde es gehören, dass jeder so verrückt sein darf, wie er will, dass er das tanzt, was er fühlt, ohne Richtungsbegrenzungen und Fußhöhenreglements: Lest es einmal nach in Piazzollas „Balada para un loco“, auf dass Horacio Ferrer nicht umsonst gestorben ist – ihr müsst ja nicht drauf tanzen, wir wollen euch da nicht überfordern…

P.S. Ich weiß, dass ich mit diesem Text noch eine Regel übertrete: nicht persönlich zu kritisieren. Wahrscheinlich tut es mir morgen schon wieder leid. Nur heute bin ich zu wütend dazu!

Infos:
www.tango-germering.jimdo.com

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