Vorwärts in die Vergangenheit
Jüngst machte man mich auf die englischsprachige Bloggerin „Terpsichoral Tangoaddict“ (Terpsichore: antike Muse des Tanzes!) aufmerksam, welche für ihre „Toleranz“ gepriesen wurde. Nun, man muss sich bei ihr durch ziemlich viel Text kämpfen (noch dazu in Englisch) – und mir persönlich liegt ihr „Readers Digest“-Stil nicht besonders.
Dennoch kann man ihre Posts der letzten Tage ziemlich simpel zusammenfassen: Persönlich sei sie zwar eine Anhängerin des traditionellen Tangos (inklusive Códigos, Cabeceo, tralala) und tanze nicht auf moderne Stücke, will daraus jedoch keine moralische Kategorie machen – schließlich sei es jedermanns persönliche Entscheidung, zu welcher Musik er wie tanze. Na prima, dann muss ich es doch nicht beichten, wenn ich mich zu Piazzolla auf dem Parkett bewege, wie schön!
Ihren
Facebook-Beitrag vom 30.6.15 schließt sie allerdings mit einem Gedanken, der
ihre Liberalität für mich ein wenig eingrenzt:
„And, besides, alternative music and big, acrobatic, Chichoesque open
embrace dancing are often gateway drugs which lure unsuspecting innocents. Many
of them will get hooked on the hard stuff soon enough. Just keep putting those
lines of white powder in front of their noses. One of these days, they will
throw away their spliffs and take a sniff. And
soon they'll be injecting right into the vein.“
Da
ich als Blogger bei meinen Lesern keine elaborierten Fremdsprachenkenntnisse
voraussetzen mag, hier meine ungefähre Übersetzung:
„Und übrigens sind
alternative Musik und das Tanzen mit großer, akrobatisch übertriebener Umarmung
oft Einstiegsdrogen, welche nichtsahnende Unschuldige anlocken. Viele von ihnen
bleiben sehr bald am harten Stoff hängen. Haltet ihnen nur weiterhin diese
Linien weißen Pulvers vor die Nase. Eines Tages werden sie ihre Joints
wegwerfen und eine Nase voll nehmen. Und bald werden sie sich einen Schuss
setzen.”
In
einer Antwort vom 1.7.15 räumt die Bloggerin alle Zweifel aus, wie denn diese leicht bekiffte Metapher gemeint sein könnte:
„Also, you know, many dancers in the diaspora begin
with alternative and move on to dancing only to traditional later, not vice
versa.”
Übersetzung: “Wie du weißt,
beginnen auch viele Tänzer in der Diaspora mit Alternativem und entwickeln sich dann
später hin zum rein Traditionellen, nicht umgekehrt.“
Ich bitte um Verständnis dafür, dass bei
solchen Zeilen mein Finger am Satire-Abzug nun doch nervös wird: Da gibt es
also die armen Heiden, welche in ihrer religiösen Minderheit – abgeschnitten
von allen Veredelungen des hehren EdO-Tangos – zunächst zu primitiven
Piazzolla-Rhythmen herumhupfen, bis man ihnen dann die wahre Droge liefert, bei
der sie schließlich in völliger körperlicher Abhängigkeit bleiben (müssen): Wird
so aus der Época de Oro am Ende der Goldene Sch(l)uss?
Da vermelde ich aus der Pörnbacher Diaspora laut und deutlich: Nach den wirklich harten
Rauschgiften sehne ich mich höchstens dann, wenn mir in den umliegenden Tango-Hochburgen
jegliche musikalische Sensibilität durch stundenlange Berieselung à la Biagi und Tanturi-Einerlei abgetötet wird oder ich sirupös auf vier Canaro-Rummelplatzwalzer hintereinander rotieren
soll – und im Gegensatz zu meinem Joghurt linksdrehend!
In der Abteilung „aufgeklärter Konservativismus“ des Tango gedeiht öfters die
gönnerhafte Einstellung, Tanzen zu moderner Musik stelle halt sozusagen eine „Jugendverirrung“ oder „Pubertät“ dar, welche irgendwann
zwangsläufig zum „erwachsenen“ Niveau
des traditionellen Tangos führe. Und gerade junge Menschen könne man mit
Discoklängen anlocken und sie anschließend zum „wahren Tango“ domestizieren.
So schreibt Cassiel in seinem Blog am 5.5.13: „Auch ich habe in meiner Tango-Karriere eine Entwicklung durchgemacht und bin schließlich nun da angekommen, wo ich stehe. Ich mag keine Non- bzw. Neo-Tangos in der Milonga hören (…) ich bevorzuge EdO-only Angebote.“
So schreibt Cassiel in seinem Blog am 5.5.13: „Auch ich habe in meiner Tango-Karriere eine Entwicklung durchgemacht und bin schließlich nun da angekommen, wo ich stehe. Ich mag keine Non- bzw. Neo-Tangos in der Milonga hören (…) ich bevorzuge EdO-only Angebote.“
Wie fast immer drücken es seine Anhänger
deftiger aus – so schreibt jemand mit dem bezeichnenden Pseudonym „Jetzt
reicht's“ am 24.4.13: „Ihr dürft gerne Eure Kunstturnmilongas veranstalten, bitte lasst aber
die erwachsenen Tangotänzer auf Ihre Milongas gehen.“
(Übrigens
sind biologische Domestikationsmerkmale u.a. eine Übernahme kindlicher
Verhaltensweisen ins Erwachsenenalter sowie der Verlust der Körperbehaarung –
was ja beim Tango… Kalauer Ende).
Generell
stellen sich Traditionstänzer die Evolution ein wenig umgekehrt vor. So
schreibt Cassiel am 21.5.14 in einer
Diskussion: „Und vielleicht noch eine
Anmerkung zu Deinem Begriffspaar ‚Traditionalisten‘ und die ‚nicht
Stehengebliebenen‘: Nach meinen Beobachtungen sind diejenigen, die Du als
‚nicht Stehengebliebene‘ bezeichnest, diejenigen, die sich vehement gegen
Entwicklungen sperren. Sie beharren auf dem Tango, den sie vielleicht vor einem
Jahrzehnt glaubten erlernt zu haben und verteidigen diesen vehement gegen jede
Verfeinerung bzw. Weiterentwicklung.“
Im
Klartext: Wenn man zunächst auf gemischte oder gar moderne Musik tanzen gelernt
hat, stellt die Rückentwicklung zum EdO-Tango geradezu eine Pflicht dar, gegen
die man sich „sperren“ kann, aber nicht
sollte. Zweifellos, so ein österreichischer Tango-Grande, handelt es sich
hierbei um die am höchsten entwickelte Stufe dieser Musik: „Niemand, der sich intensiv mit der Tangomusik von 1926 bis ca. 1958
beschäftigt, ist der Meinung, dass moderner Tango so gut ist, dass er
gleichberechtigt neben den traditionellen Tangos gespielt werden sollte.“ (Don
Xello auf Cassiels Blog, 3.4.13)
Nein, klar, der heutige ist oft besser!
Nein, klar, der heutige ist oft besser!
Vielleicht
sollten derartige Evolutions-Philosophen schon einmal zur Kenntnis nehmen, dass
es niemals eine reinrassige „Urform“ des Tangos gab. Bei aller Neigung
gewisser Kreise zum deutschen Schäferhund: Unser Tanz war schon immer eine
Promenadenmischung (die höchstens an einen Stammbaum pinkelt), in welcher sich die Einflüsse vieler Völker und Kulturen
vermischten, die äußeren Umstände, sprich die Selektionsfaktoren, immer wieder
Änderungen erzwangen: hinsichtlich der Besetzungen, der verwendeten Instrumente,
der Arrangements, des Publikumsgeschmacks und vielem mehr.
Die „Goldene Epoche“ zeichnete lediglich die Tatsache aus, dass der Tango damals „Mainstream“ war, also ein sehr großes Publikum anzog. Einerseits stand damit eine Menge guter Musiker zur Verfügung, welche wegen der zahlreichen Auftrittsmöglichkeiten eine exzellente Spielroutine hatten, andererseits entstanden so kommerziell glattpolierte Aufnahmen für den breiten Massengeschmack.
Die „Goldene Epoche“ zeichnete lediglich die Tatsache aus, dass der Tango damals „Mainstream“ war, also ein sehr großes Publikum anzog. Einerseits stand damit eine Menge guter Musiker zur Verfügung, welche wegen der zahlreichen Auftrittsmöglichkeiten eine exzellente Spielroutine hatten, andererseits entstanden so kommerziell glattpolierte Aufnahmen für den breiten Massengeschmack.
Es
amüsiert mich schon ein wenig, wenn „Tangoexpert/innen“ europaweit per Seminare
den Eindruck erwecken, Tango insgesamt stelle eine wissenschaftlich bedeutende
musikalische Hochkultur dar. Bei den frühen Stücken handelte es sich um
einfachste Folklore, gespielt von Musikern, welche nicht einmal Noten lesen
konnten. Die EdO-Kompositionen waren gehobene Schlager- und Unterhaltungsmusik,
in der Spitze vielleicht auf dem Level des Chansons oder Musicals. Natürlich
kann man auch James Last
musiktheoretisch beleuchten – aber man sollte dann schon von den Knien wieder
zu einer bequemen Sitzposition übergehen. Die einzigen, welche den Vorstoß in
höhere Ebenen der Komposition und der Arrangements schafften, waren die Vertreter des Tango nuevo um
Astor Piazzolla, aber die nehmen wir ja auf klassischen Milongas nicht.
Auch
biologisch überzeugt mich die Sichtweise der Taditionalisten nicht. Die
Evolution schreitet immer weiter fort – einen End- oder gar Höhepunkt hat sie
nicht. Und, wie der belgische Paläontologe Louis Dollo es in seinem bekannten Gesetz formuliert hat: Sie nimmt
nie zweimal den gleichen Weg hin und zurück. Oder, wie es bei den Boxern heißt:
They never come back. Folgt man der
oben beschriebenen Logik der Rückentwicklung hin zum klassischen Tango, so würde sich die Hominiden-Evolution in etwa so darstellen:
www.tangofish.de |
Unter dieser Perspektive müsste man die Anhänger des historischen Tango als „lebende Fossilien“ betrachten, deren Überleben eine isolierte, sich wenig verändernde ökologische Nische voraussetzt (siehe Quastenflosser oder die Ammoniten-Nachfahren vom Typ Nautilus) – ob nun Tiefsee oder Encuentros. Oder auf unsere Spezies bezogen: Aus dem Jetztmenschen (homo sapiens sapiens) wird nie mehr der Neandertaler (homo sapiens neanderthalensis) – nicht mal in Düsseldorf.
Andererseits hatte ich gelegentlich auf Milongas schon den Eindruck… aber Tango ist sicherlich kein rein biologisches Phänomen!
Thomas kroeter merkt aus dem sueden frankreichs an: dass du lieber gerhard r. Andern menschen ankreidest, man muesse sich durch ziemlich viel text kaempfen, nun ja da spricht der experte - wenn auch auf deutsch. Was deine stilkritik angeht: meine readdig-lektuere liegt zu lange zurueck. Ansonsten bin ich froh, wenn die tradis nicht gleich alle anderstanzenden behandeln wie der tief fliegende erzengel, wenn er sich denn traute. Ps: da ich 1 grosser fan von castillo bin, hab ich in juengster zeit etwas mehr tanturri gehoert als der stino tradidj aufzulegen pflegt... ich finde, da gibts auch fuer undogmatiker was zu entdecken. Und zu tanzen.
AntwortenLöschenLieber Thomas Kröter,
Löschenich freue mich über jeden Kommentar - auch wenn er sich an Randaspekten abarbeitet.
Der Spruch mit dem „vielen Text“ hatte übrigens, auch wenn Dir das bei mir unvorstellbar erscheint, durchaus einen selbstironischen Touch – natürlich verbunden mit meinem Amüsement, dass Dir solches bei bloggenden Damen net so auffällt. Besser als Cassiel ist mir aber als Gütesiegel zu wenig. Meine Readers Digest-Erfahrungen liegen ebenfalls schon weit zurück, allerdings hat sich mir der gutmenschig-neunmalkluge Duktus amerikanischer Mittelstandstanten lebenslänglich eingeprägt.
Ob nun diese oder weibliche DJs: Das feminine Geschlecht hats bei Dir schon a wenig einfacher, stimmts? Is ja net schlimm und durchaus bei mir ähnlich, nur sind vielleicht meine diesbezüglichen Ansprüche höher: Hätte ich je die Absicht gehabt, irgendwelche „Mütter des Salontango“ zu umwerben – bei dem Gezicke wärs mir längst zu blöd geworden.
Und zu Tanturi: Ich bin da für konkrete Tipps dankbar, nur kenn ich den Meister von dem ewig gleich scheppernden Dutzend Aufnahmen, mit denen ich auf den üblichen Milongas traktiert werde. Das war der Punkt. Aber vielleicht bin ich ja für das „Leise, Raffinierte“, das gewisse DJanes für sich reklamieren, zu groborientiert. Mich erinnern solche Sprüche immer an den alten Musikerwitz: „Unser Sopran hat ein Pianissimo, des hat überhaupt noch keiner ghört!“
Und ich versprech, mich um der Texte Kürze zu bemühen – selbst wenn ich zu diesem Zweck ebenfalls Frühstücksarrangements oder singende Dohlen posten müsste…
Herzliche Grüße und komm gut heim!
Gerhard Riedl