Tanzen à la carte
Verfolgt
man die Veröffentlichungen der traditionell eingestellten Tangopopulation, so
fällt als hauptsächliche Gemeinsamkeit die Angst
auf, ob denn eine Milonga gemäß den allfälligen Regularien ablaufen wird:
·
Wird
der DJ entsprechend den zahlreichen, überaus komplizierten Gesetzmäßigkeiten auflegen:
richtiger Aufbau der Tandas (keine
Stücke aus unterschiedlichen Schaffensperioden eines Orchesters, gar noch mit
verschiedenen Sängern und/oder Mix aus instrumentalen plus gesungenen Titeln),
vorschriftsmäßige Abfolge der Tandas (TTMTTV… tralala), keine zu frühe
Präsentation später EdO-Schaffensperioden (Krankheitsbild des "Pugliese praecox"),
keine unbekannten Titel, scho gor koi moderner Tango ned und vieles mehr…
·
Wird
die passende Cortina erklingen:
eines, mehrere oder viele Stücke, nicht zu laut, zu leise, zu kurz, zu lang, dem
Anlass entsprechend (Weihnachten, Ostern, Frühlingsanfang oder gar Marschmusik
als Musikquiz) – und schon gar nicht „tanzbar“ (na gut, ist hier ein weites
Feld).
·
Wird
sich die aus der Kurhaus-Wandelhalle bestens bekannte, schleppend-träge Ronda einstellen oder müssen wegen
der Aktivität einzelner, exzessiv tanzender Paare schon bald die ersten, von
Highheels stigmatisierten Märtyrer notärztlich versorgt werden?
·
Wird
im Getümmel von zwanzig Sekunden Cortina – trotz Schummerlicht, eigener
Dioptrienzahl und der Anwesenheit diverser Rivalen die blinzelige Aufforderung verbal unansprechbarer
weiblicher Wesen gelingen? Und wie oft?
·
Wird
man gar die jeweils eine Traumtänzerin
finden, welche optimal für eine D’Arienzo-Milonga aus der mittleren
Schaffenszeit dieses Orchesters passt – und nicht diejenige, welcher man
höchstens die Ausführung von drei Biagi-Walzern (und nur mit dem Sänger Jorge
Ortiz) zutraut?
·
Wird
die Veranstaltung vorschriftsmäßig mit einer Cumparsita beendet – eine Quelle der Furcht, welche einen noch dazu
den ganzen Abend über begleitet! Man stelle sich vor, abschließend würde stattdessen
„El Choclo“ erklingen: Die gesamte
Milonga wäre nun wertlos!
Kein
Wunder, dass sich hier gerade bei Tangueros veritable Angststörungen entwickeln können – mit der Folge unkonzentrierten
Tanzens, Haarausfall, schlechter Orthografie und der Neigung zu Wutausbrüchen
im Internet.
Das
alles muss doch nicht sein, wenn man sich endlich der Erkenntnis stellen würde,
dass traditionelle Milongas immer noch einen zu geringen Organisationsgrad aufweisen. Argentinische Traditionen reichen hier
keinesfalls, wissen wir doch alle, dass der gemeine Südamerikaner dem Europäer
in der Sparte Zucht und Ordnung kaum das Wasser zu reichen vermag.
Glücklicherweise
verfügen wir über einen – leider heute fast vergessenen – Brauch, welcher sich
gerade auf den Wiener Bällen des 19. Jahrhunderts einer großen Beliebtheit
erfreute: die Tanzkarte.
„Die klassische
Tanzkarte weist das Format einer Grußkarte auf. Die Außenseite ist verziert, meist mit Insignien
des Gastgebers oder Logo des Sponsors. Auf der Innenseite findet sich eine
Auflistung aller Musikstücke des Abends mit den Angaben Tanz, Titel und Komponist
und jeweils einer freien Fläche, in die sich die Tanzpartner der Dame
eintragen. (…)
Ist es heute üblich,
dass die Dame den Ball in Begleitung ihres Partners besucht und – mehr
oder weniger ausschließlich – mit diesem tanzt, so war die Situation früher
grundsätzlich anders. Das Mädchen oder die Dame erschien in Begleitung der
Eltern oder einer Anstandsdame am Ball und hoffte auf die verschiedensten Tanzpartner.
Durch Pflicht oder Neigung veranlasste Herren baten nun die Dame –
möglichst frühzeitig – um Reservierung bestimmter, in der Tanzordnung
angekündigter Tänze, was, um alle Verwirrung zu vermeiden, in die Tanzkarte eingetragen wurde.“
(Quelle: Wikipedia)
Eine
traditionelle Milonga müsste dann nur pünktlich
(deutsche Sekundärtugend!) dreißig Minuten früher beginnen, um den Tangueras
rechtzeitig ihre Tanzkarten überreichen zu können und den Männern Gelegenheit zu
lassen, sich für die gewünschten Titel bei den Damen ihres Herzens einzutragen.
Zu spät erscheinende „Tanzkarten-Verweigerer“
müssten sich halt dann mit den verbliebenen Lücken abfinden. Musikalisch könnte
man diese halbe Stunde mit einer „Dauer-Cortina“
füllen. Dies würde auch einen anderen, gravierenden Nachteil vermeiden: Ich
habe mich stets gewundert, warum gerade Traditionalisten, welche sich doch
sonst bei musikalischen Abweichungen grenzwertig zieselig gerieren, erstaunlich
indolent auf das tanzunterbrechende, viertelstündige Gedudel oder Gedröhne
reagieren. Sollte mich einmal etwas aus der Tangostimmung reißen, dann das!
Übrigens
müsste man bei dieser Organisationsform nicht auf den geliebten Cabeceo verzichten: Der eine Partner
deutet halt auf die entsprechende Stelle der Tanzkarte, und der andere nickt,
falls Einverständnis besteht.
Weiterhin
sollte man bedenken, dass die gebotenen Musikabfolgen heute nur noch selten von
den jeweiligen DJs stammen. Im Internet gibt es, wie früher im
Lateinunterricht, eine Vielzahl von „Klatschen“, in denen man empfohlene
Tanda-Zusammenstellungen spicken kann. Ergebnis einer einminütigen Suche z.B.
http://www.tangoplaylist.com/
http://www.tangoplaylist.com/
Mittels einer sicherlich leicht zu entwickelnden „Schrammel-App“
könnte man die Playlist der geplanten Milonga doch bequem auf den Smartphones
der Teilnehmer installieren und somit zu einer zeitgemäßen „virtuellen
Tanzkarte“ gelangen. Damit wäre das averbale Auffordern endgültig zementiert –
und das tangofremde Cortina-Gedudel eliminiert!
Leider bleibt die Hauptgefahr für den regelkonformen
Ablauf einer Tangoveranstaltung die Praxis. Wenn es aber sowieso weniger ums
Tanzen als um die Tatsache geht, dass eine Milonga in rechter Ordnung verläuft,
tut sich eine faszinierende Zukunftsperspektive auf: die virtuelle Milonga. Man kennt doch Musiktitel, DJs und die
Mitglieder der Glaubensgemeinschaft sowieso – warum dann noch Fehlerquellen
riskieren, welche man in der Theorie ausschalten kann? Man verabredet sich
einfach zu einem schönen Tangoabend am
Computer (soll es in anderen Foren bereits geben).
Ich gebe ja zu, dass mein Vorschlag nicht ganz
uneigennützig ist: Mit den Frauen, die ich dann noch auf freier Wildbahn träfe,
würde ich gerne einmal tanzen!
P.S. Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Playlists unserer "Wohnzimmer-Milongas" veröffentliche ich immer erst hinterher - vorher weiß ich sie nämlich noch nicht!
P.S. Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Playlists unserer "Wohnzimmer-Milongas" veröffentliche ich immer erst hinterher - vorher weiß ich sie nämlich noch nicht!
Na, das wäre doch mal wieder eine superklasse Workshopidee: "Einführung in die regelrechte Nutzung der Tanzkarten-App" mit Abschlussprüfung und Zertifikat, das uns anschließend zum Besuch der Milonga - und zum Tanzen - berechtigt.
AntwortenLöschenGenau - gemäß dem heutigen Workshop-Rahmenthema: "Schön, dass wir mal darüber gesprochen haben!"
LöschenUnd - hurra - das Blog hat soeben die Grenze von 50 000 Zugriffen überschritten!
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