Vom Absturz eines Engels
Neulich
auf einer Milonga saß sie mir gegenüber: In einem dunklen, unauffälligen Kleid
und Schläppchen – sie hatte also mit Sicherheit noch nie eine
Tangomode-Boutique von innen gesehen – mittleres Alter, „brave“ Frisur.
Zweifellos eine Anfängerin, mir völlig unbekannt, und so ging es wohl auch der
restlichen Tangopopulation des Abends, denn sie blieb für geschlagene
eineinhalb Stunden unaufgefordert. Dennoch war ihr Blick stets auf die Tanzfläche
gerichtet, sie suchte nicht nach Gesprächspartnern oder anderen Ablenkungen –
vielleicht, weil sie niemand kannte oder auch gar keinen Wert darauf legte.
Obwohl
mein „soziales Gewissen“ nach vielen Tangojahren sich nicht gerade vergrößert
hat, wurde ich langsam unruhig. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie diese
Behandlung nicht verdiente. Sollte ich selber mit ihr tanzen? Wenn man
zwei Begleiterinnen dabei hat, haben die natürlich Vorrang – außerdem war ich
schon ziemlich erschöpft und wohl auch ein bisschen bequem.
Schließlich
machte ich eine meiner Tangopartnerinnen, die auch sehr gut führen kann, darauf
aufmerksam: „Willst nicht mal das
Mauerblümchen dort drüben auffordern?“ Umgehend kam sie meiner Bitte nach, und ich nutzte die Gelegenheit für
einen anderen, längst ausstehenden Tanz, was meine Beobachtungsmöglichkeiten
einschränkte. „Du, das ging richtig gut
mit ihr“, war die anschließende Auskunft meiner Tangofreundin. „Und weißt du, wie lange die schon tanzt?
Seit vorgestern, da hat sie eine Schnupperstunde mitgemacht.“
Die
laufende Tanda bot ruhige, romantische Titel, die dennoch nicht langweilig
klangen. Na dann – ich forderte sie auf und war schon einmal entzückt darüber,
dass sie mir nicht den Standardsatz in solchen Situationen lieferte: „Ich bin aber noch Anfängerin.“ Stattdessen bot sie mir eine sensible
Umarmung, als sei das für sie eine selbstverständliche, lange gewohnte Routine.
Anfangs
versuchte ich sie mit einfachen Gehschritten in den Duktus des gerade
gespielten Titels zu führen – und, o Wunder, diese Frau hörte die Musik, wie es
andere nach Jahren nicht schaffen – und, noch schöner, sie sagte weiterhin
nichts. Dennoch war unser Dialog höchst intensiv, und sie verstand es intuitiv,
wenn ich ihr eine Verzögerung, einen Stopp oder eine dynamische Bewegung
vorschlug, Nähe oder Abstand wollte. Bald steigerten wir uns auch
choreografisch: Cunitas, Ochos, Drehungen und sogar Sacadas lernte sie
schlichtweg, indem sie das alles erfühlte – und nach drei Tänzen hatten wir das
Standardrepertoire durch, welches sich bei anderen – wenn überhaupt, in einigen
Jahren etabliert.
Dann
die Cortina, welche ich nicht gerne als Schlusspunkt unseres Miteinanders
akzeptiert hätte: Erstens überhaupt (man muss doch seinen schlechten Ruf
wahren), zweitens hatte wir ja das erste Stück nicht getanzt, und drittens
wollte ich dieses Gefühl noch etwas ausdehnen: „Geht noch ein Tanz?“ „Von mir aus gerne“, war ihre Antwort, „falls es dich nicht zu sehr anstrengt.“
„Wieso denn das?“ „Na ja, es muss doch
mühsam sein, mit jemandem zu tanzen, der das alles noch nicht kann.“ Was
sollte ich da antworten? Sie würde es mir sowieso nicht glauben. Dennoch wollte
ich ihr die Wahrheit nicht verschweigen: „Meinst
du, wir hätten das so hingekriegt, wenn du es nicht könntest?“
Nach
dreieinhalb Minuten Traum bedankte ich mich sehr herzlich bei ihr, und sie belohnte
mich mit der Auslassung des Satzes, welcher in solchen Situationen jetzt
eigentlich dran gewesen wäre: „Ja, wenn
man so geführt wird, kann man auch tanzen.“ Blödsinn – wenn sie nicht so
ein Megatalent wäre, hätten wir das nie geschafft.
Ich
musste jetzt dringend raus an die frische Luft, den weiteren Anblick des üblichen
Herumgehampels auf dem Parkett hätte ich momentan nicht ertragen. Im
Vorbeigehen raunte ich meiner liebsten Tanguera von allen noch zu: „Tanz mal mit ihr, sie hat es verdient!“
Draußen
suchte ich mir eine stille Ecke und blickte auf zu den alten Bäumen des Biergartens. Da hatte sich wohl ein
Tangoengel beim Spielen auf den Ästen zu weit nach außen gewagt und war
unvermittelt vom Tangohimmel in eine Traditionsmilonga abgestürzt. Natürlich
hätte ich ihr gerne gesagt, welche Riesenchance der Tango für sie sei – und
umgekehrt. Diesen Worten hätte sie sicher nicht geglaubt – vielleicht konnte
ich sie vorhin ja averbal überzeugen. Und mein Herzenswunsch wären die Ratschläge
gewesen: „Geh ja nicht in einen
Tangokurs! Lass es nicht zu, dass man dein Hirn einschaltet und dafür dein
Gefühl unterdrückt! Und glaub nicht daran, dass es ‚untanzbare Tangos‘ gibt!“
Hätte sie das überzeugt? Wohl nicht – und bedrohlicherweise geisterte an diesem
Abend wieder einmal ein talentfreier Tangolehrer umher, stets auf der Suche
nach neuen Opfern.
Zu
allem Überfluss wurde sie später noch von einem berüchtigten Haurucktänzer
aufgefordert, der Schieben, Quetschen, Herumhüpfen und diverse Judogriffe für
Tango hält. Am liebsten hätte ich ihr während des laufenden Tanzes per Megafon
zugerufen: „Lass dich nicht beirren und
folge deinem Bauchgefühl: Du kannst es, er nicht!“
Da
ich mich beim Tango zu benehmen weiß (vielleicht bin ich auch zu feige), habe
ich natürlich die Klappe gehalten und mich getröstet: Wenn sie wirklich so ein
Talent ist und die nötige Willensstärke aufbringt, wird sie das alles
überstehen. Trotzdem fürchte ich einen Verlauf, den ich seit vielen Jahren immer
wieder bestätigt bekomme:
Die
Unbegabten triffst du dreimal die Woche – wenn du aber einmal einen
ungeschliffenen Diamanten ausgegraben hast, verschwindet der gleich wieder im
Nirwana.
P.S.
Dieser „Sense of wonder“-Text
entspringt nicht einer akuten Terpsychose.
Sein Rechtfertigungsgrund ist schlicht, dass mir die Geschichte vor über
einer Woche genauso passiert ist.
P.P.S. Meine Vorhersage traf ein: Ich habe diese Frau nie wieder beim Tango gesehen...
Lieber Gerhard,
AntwortenLöschenbeim Lesen deiner Ode an den Tangoengel entstand bei mir - von dir vermutlich nicht so beabsichtigt - das Bild einer (Tanz-)Fläche voller Kartoffeln (den vielen "Unbegabten") mit einem (versteckten) Diamanten (dem "Engel"). Dabei fragte ich mich: "Ist das schon alles - oder gibt es mehr als nur Kartoffel und Diamant?" Und: "Wo finde ich mich darin wieder: Diamant bin ich nicht - und Kartoffel will ich nicht sein?"
Es hat eine Weile gedauert, bis ich für mich eine Antwort auf meine Fragen fand: Muggelsteine gibt es in vielen verschiedenen Farben, fühlen sich gut an und reizen zum Spielen. Mit dem inneren Bild eines einfachen Muggelsteins konnte ich den Nachmittag im Riedl'schen Wohnzimmer mit ganz unterschiedlichen Tänzerinnen und Tänzern und wunderbarer Musik sehr genießen.
Danke für deinen Text, der mich zum Grübeln, Suchen und Finden gebracht hat!
Mirjam
(mit dem Wunsch, sich beim Tanzen vom Muggelstein in eine Muranoperle weiterzuentwickeln ...)
Liebe Mirjam,
Löschenvielen Dank für Deinen Kommentar!
Das Bild von den „Muggelsteinen“ hat was – der Tango soll ja bunt und vielfältig sein, und da gibt es sicher mehr als „Kartoffeln“ und „Diamanten“ – auch wenn in meinen Artikeln nicht immer davon die Rede ist.
Meine Texte – ob Blog oder Buch – arbeiten oft mit dem Stilmittel der Überzeichnung, wollen provozieren. Tango wird heute von vielen als eine Fertigkeit gesehen, die man in Kursen zu erlernen hat. In unserer „Tango-Vorzeit“ war er eher eine Herausforderung, der man sich mit der eigenen Kreativität, dem Tanzen auf vielen Milongas, mit unterschiedlichen Partnern und zu einem weiten Musikspektrum stellte. Heute bildet sich für mich oft das Bild einer uniformen Masse, in der halt dann singuläre Begabungen besonders auffallen – leider meist nicht lange, weil solchen Talenten die momentane Szene zu wenig Inspiration liefert.
Viele Blogger (auch im Tango) arbeiten anonym, weil sie die Identifikation ihrer realen Person mit ihren Texten nicht wollen. Ich schreibe unter meinem wahren Namen – dennoch sehe ich schon einen Unterschied zwischen der „Kunstfigur“ des Autors und der Privatperson des Gerhard Riedl. Beide hegen füreinander große Sympathie, sind aber nicht identisch.
Auf unserer „Wohnzimmer-Milonga“ jedenfalls ist Vielfalt nicht nur erlaubt, sondern geradezu Programm – wir freuen uns über Euren Besuch und hoffen, Euch auch in Zukunft wieder bei uns zu haben!
Liebe Grüße
Gerhard