Ende des Pazifismus?

 

We shall live in peace
We shall live in peace
We shall live in peace, some day

Oh, deep in my heart
I do believe
We shall overcome, some day
 

Das Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, welches wohl nicht nur mich, sondern viele meiner Altersgenossen geprägt hat, hörte ich gestern – nach langer Zeit – wieder einmal: Bei einem Friedensgebet, das Vertreter der christlichen Kirchen in Pfaffenhofen veranstalteten. Es war eine sehr andächtige Stimmung – zirka 400 Menschen hatten sich mit Kerzen im Hof neben der katholischen Stadtpfarrkirche versammelt. Das Rathaus war in den Farben blau und gelb angestrahlt – sowohl die Stadtfarben Pfaffenhofens als auch das Design der ukrainischen Flagge.

Glücklicherweise gab es keine aggressiven Töne oder Plakate in der Machart von „Putin fahr zur Hölle“. So konnte ich mich voll und ganz in der Veranstaltung aufgehoben fühlen.

https://www.donaukurier.de/lokales/pfaffenhofen/Verbundenheit-in-Blau-und-Gelb;art600,4854296

Wieder Krieg in Europa – diese Tatsache greift in zweifacher Hinsicht nach meiner Seele: Wenn ich die Bilder von Menschen sehe, welche mit einem hastig zusammengeschnürten Bündel per Auto, Zug oder zu Fuß – oft Mütter mit ihren Kindern – ihre Heimat verlassen, kommen bei mir Reminiszenzen an unsere Familiengeschichte auf. Meine Mutter und die Eltern meines Vaters mussten nach 1945 ihre sudetendeutsche Heimat verlassen – je 40 Kilo Gepäck pro Person waren erlaubt. Sie landeten in einem kleinen Dorf nahe Ingolstadt.

Mein Opa hätte übrigens bleiben dürfen – als Gewerkschafter galt er als „Widerstandkämpfer“ und durfte eine rote Armbinde tragen. Seine Frau sowie die Schwiegertochter eine weiße – was „Kollaborateure“ bedeutete. Offiziell durften diese beiden deutschen Personengruppen keine privaten Kontakte zueinander haben – ließ sich aber familiär nicht ganz durchsetzen…

Es dauerte bis zum Silvester 1949, an dem mein Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte – und ich erblickte ein knappes Jahr später das Licht der Welt. Von seinem Leiden in den Lagern konnte mein Vater viele Jahre lang nichts erzählen – und als er es dann aufschrieb und uns vorlas, betonte er immer wieder, die „Russen“ nicht zu hassen. „Uns ging es schlecht, aber die Bevölkerung hatte kaum mehr.“ Eine russische Ärztin rettet ihm sogar das Leben. Lediglich auf die Parteibonzen und Politkommissare war er schlecht zu sprechen. Die sorgten immer wieder dafür, dass er – aus frei erfundenen Gründen – von den Rücktransport-Listen gestrichen wurde.

„Nie wieder Krieg!“diese Losung war für meinen Vater eine Selbstverständlichkeit. So  konnte er dem Antikommunismus der Adenauer-Ära wenig abgewinnen. Da blieb er überzeugter, wenn auch parteiloser Sozialdemokrat. Dennoch war er sehr erschrocken, als sein Sohn nach der Musterung verkündete, den Kriegsdienst verweigern zu wollen. Seine Sorge galt meiner späteren Karriere als Lehrer und damit wohl als Beamter.

In meinem jugendlichen Radikalismus lagen mir solche Bedenken natürlich als „kleinbürgerliche Ängste“ sehr fern. Kein anderer Autor prägte mich damals so wie Wolfgang Borchert: Sein „Dann gibt es nur eins!“ war für mich moralische Richtschnur. Das Wettrüsten im Kalten Krieg und damit die Gefahr einer Auslöschung der Menschheit musste unter allen Umständen verhindert werden.

https://www.bo-alternativ.de/borchert.htm

Meine Motive bestanden aus einer Art links-getöntem christlichem Humanismus, mit dem ich sogar das Prüfungsgremium im Kreiswehrersatzamt auf Anhieb überzeugte. Seither darf ich mich rühmen, über ein staatlich geprüftes Gewissen zu verfügen. Hat auch nicht jeder…

Damals wurden junge Männer wie ich weithin als „Drückeberger“ angesehen, welche zur Vaterlandsverteidigung zu feige waren, ja vielleicht sogar gemeinsame Sache mit den Kommunisten machten. Pazifisten wurden reihenweise von den Prüfungsausschüssen abgelehnt, weil man sie mit Fangfragen in die Ecke trieb.

Ich beschloss daher mit einigen Freunden, eine „Beratungsstelle für Kriegsdienstverweigerer“ aufzumachen – als Initiative der Katholischen Jugend unserer Diözese. Immerhin war ich damals Dekanatsjugendleiter. Die Kirche war nicht sehr angetan von unserem Tun – mit Ausnahme eines jungen, ziemlich rebellischen Kaplans, der uns auch logistisch unterstützte.

Unsere Idole waren damals Gandhi, Martin Luther King und der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell, von dem der Satz stammt: „Keines der Übel, die man durch einen Krieg beseitigen will, ist ein ebenso großes Übel wie der Krieg selbst.“

Wir berieten in dieser Zeit zirka 50 Wehrpflichtige, die (nach unserem Wissen) alle ausnahmslos ihre Anerkennung erreichten. Weiterhin zogen wir durch die Dörfer, um in Veranstaltungen die jeweilige Pfarrjugend über das Recht nach Art. 4 (3) Grundgesetz aufzuklären – und auch dort begegneten wir oft massiven Vorurteilen. Mein Rat an die Begleiter war stets: „ordentliche Frisur und Jackett“ – um zumindest der nächstliegenden Vorstellung zu begegnen, wir seien „langhorade Aff’n“.

Manchmal gab es auch Podiumsdiskussionen mit einem Presse- und Informationsoffizier der Bundeswehr, dieser nur echt mit schickem Kinnbärtchen, das wohl ausdrücken sollte: „Wir sind doch gar nicht so.“  Immer noch muss ich an den modischen Leutnant denken, der förmlich detonierte, als ich auf seine Frage „Glauben Sie, dass Soldaten Mörder sind?“ antwortete: „Nein, sie haben meist keine niedrigen Beweggründe. Folglich sind sie Totschläger.“ Gelegentlich hatten wir auch Kontakt mit der Militärpolizei, wenn wir am Bahnhof oder vor der Kaserne die neu eingezogenen Rekruten mit Flugblättern ausstatteten. Einmal schnarrte mich ein Offizier an: „Ich werde Sie wegen Wehrkraftzersetzung anzeigen!“ Ich musste ihn allerdings darüber aufklären, dass dieser Straftatbestand zusammen mit dem Dritten Reich abgeschafft wurde…

Weniger lustig war der Kontakt mit einem angeblichen Soldaten, dem wir bei der Fahnenflucht behilflich sein sollten was wir natürlich ablehnten, da auch die Beihilfe strafbar wäre. Ich bin heute noch davon überzeugt, dass es sich bei unserem Gast um einen Geheimdienstler handelte. Vielleicht hatte ich deshalb bei der Verbeamtung keine Probleme trotz des damaligen Radikalenerlasses".

Fest steht aber: Meine Beliebtheit bei den Konservativen glich damals ungefähr meiner heutigen beim Tango.

Gerade in diesen Tagen muss ich an einen Satz denken, mit dem der Vorsitzende des Prüfungsausschusses meine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer garnierte: „Junger Mann, Sie haben auf uns einen guten Eindruck gemacht. Daher glauben wir, dass Sie im Ernstfall doch unser Vaterland mit der Waffe verteidigen werden.“

Ist dieser Moment nun gekommen? Ich könnte es mir einfach machen: In meinem Alter würde ich nicht mal in der Ukraine an die Front geschickt. Doch diese Ausflucht erscheint mir zu billig. Es ist nun etwas eingetreten, dessen Existenz wir damals heftig bestritten: ein „gerechter Krieg“. Haben die Ukrainer das Recht, ihre Heimat zu verteidigen? Zweifellos – und mit welcher Entschlossenheit sie es tun, nötigt mir größten Respekt ab. Dennoch läuft es mir bei „Kriegsbegeisterung“ kalt den Rücken herunter.

Hätte die Alternative „gewaltloser Widerstand“, die wir damals propagierten, eine Chance? Wer das als Spinnerei abtut, muss sich allerdings schon sagen lassen, dass man das nie ernsthaft versucht hat – gründlich und mit einem Bruchteil des Geldes, das man immer wieder fürs Militär ausgibt. Sicher würde es auch da Opfer geben – aber wohl nicht so viele wie in den Kriegen dieser Welt. Immer noch denkt man lediglich in den Kategorien „Rüstung und Abschreckung“. Hat sich das bewährt?

Meine Generation ist geprägt von der Ostpolitik Willy Brandts: Verständigung und Zusammenarbeit statt Konfrontation und Kaltem Krieg. Das bleibt nach wie vor richtig – auch wenn es manchmal gewissenlose Führer gibt, bei denen das nicht verfängt.

Ich bilde mir nicht ein, die richtige Lösung zu kennen. Vielleicht gibt es im Leben Situationen, wo man sich nur für das weniger Falsche entscheiden kann. Und Realpolitik ist etwas anderes als geklampftes „Blowing in the Wind“ am Lagerfeuer. Dennoch: Wie dieser Krieg in Europa ausgeht, kann keiner vorhersagen – bis auf das eine Ergebnis: Es werden viele ukrainische und russische Kinder ohne Vater aufwachsen. Langt es dann, wenn ein Foto des „Helden“ an der Wand hängt?

Auch dieses Lied wurde gestern gesungen:

Sag wo die Soldaten sind,
Über Gräbern weht der Wind
Wann wird man je versteh‘n?
Wann wird man je versteh‘n?

https://www.youtube.com/watch?v=aLAxbQxyJSQ

Daher kann ich an ein Ende des Pazifismus nicht glauben.

Ein wenig Hoffnung macht mir die Reaktion der Weltöffentlichkeit (jedenfalls dort, wo Meinungsfreiheit herrscht), welche die russische Aggression eindrucksvoll zurückweist, ja mehr noch: Wirtschafts- und Finanzverbindungen, sportliche und kulturelle Kontakte werden reihenweise abgebrochen. Die Botschaft lautet: Mit Leuten, die einen Angriffskrieg vom Zaun brechen, wollen wir nichts mehr zu tun haben. Und man kümmert sich um die Kriegsflüchtlinge. Plötzlich hält Moral großflächig ihren Einzug in die Politik – wer hätte das gedacht?

Daher lautet mein Rat, den ich neulich zu einem anderen Thema abgegeben habe, weiterhin:

Ausgrenzen – ja, was denn sonst?

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.