Piazzolla für Laien?

 

Meine Frau Karin hat neulich ein Buch über den Begründer des Tango nuevo entdeckt, das sie ungemein interessant fand. Zu meiner Freude bot sie mir einen Text dazu an, den ich gerne veröffentliche:

 

Piazzolla für Laien?

„Darf, soll, kann man auf die Musik Piazzollas Tango tanzen?“

Ich gestehe, dass mir diese in Tango-Kreisen immer wieder mehr oder weniger heftig diskutierte Frage zunehmend auf die Nerven ging.

So beschloss ich, für mich ganz persönlich eine Antwort darauf zu suchen.

Durch Zufall fand ich das folgende Buch, das mir viele Anregungen zu Piazzolla gab und das ich sehr zur Lektüre empfehlen kann.

Leider existiert keine deutsche Übersetzung, aber auch mit einem Abitur-Englisch (wie in meinem Fall) ist es nicht zu mühsam zu lesen. Es vermittelt ein lebendiges Bild von Piazzollas Lebensstationen, seinem Denken, Fühlen, seinem Charakter und natürlich von seiner Musik.

„Astor Piazzolla. A Memoir“

(Amadeus Press, Portland Oregon, 2001, ISBN 978-1574670677)

Der Autor ist der Journalist Natalio Gorin, ein Freund Piazzollas, der jedoch diesen häufig selbst zu Wort kommen lässt. Nach der zweijährigen Krankheit und dem Tod Piazzollas 1992 hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, das Buch alleine fertigzustellen. Übersetzt wurde das Original ins Englische von Fernando Gonzalez.

Die zentrale Botschaft: Piazzolla lebte für seine Musik und in ihr.

Seine Auftritte hatten magische Ausstrahlung, wie Gorin schreibt: „I miss Piazzolla. That old ritual was unique: Piazzolla nailing his left leg to the floor, placing the black box over his right knee, a black box that was not about death but about life. Then he’d put his left hand up in the air, counting the beats for the alevare, and then came the magic of his music.” (S. 189)

(„Ich vermisse Piazzolla. Das alte Ritual war einzigartig: Piazzolla fixierte sein linkes Bein auf dem Boden, legte die „Blackbox“ (gemeint ist das Bandoneon) über sein rechtes Knie, eine Blackbox, bei der es nicht um den Tod, sondern um das Leben ging. Dann hob er die linke Hand, zählte die Schläge vor dem Anfang ein und dann kam die Magie seiner Musik.“) 

Piazzolla meint einmal, das Bandoneon sei sein Psychoanalytiker: „I start playing it and I blurt everything out.“ (S. 141)

(„Ich beginne zu spielen, und alles platzt aus mir heraus.“)

Mit Respekt berichtet er von Bandoneon-Kollegen, deren individuelle Spielweise er hoch achtet. Seine Position zwischen ihnen wirkt zugleich bescheiden und selbstbewusst: „Perhaps someone might surpass me, but no one can play like Piazzolla. But I was’nt born in a vacuum, nor is my sound a rarity that fell from the sky. Everything is connected. I say so in my music.” (S. 142)

(Vielleicht übertrifft mich jemand, aber niemand kann spielen wie Piazzolla. Aber ich wurde nicht in einem Vakuum geboren, und mein Klang ist keine Rarität, die vom Himmel gefallen ist. Alles ist miteinander verbunden. Davon erzähle ich in meiner Musik.“)

Und dieses Streben nach Verbindung gilt auch für die Musik des bewunderten, gehassten, geliebten Tango-Komponisten Piazzolla. Bekanntlich finden sich Spuren von Bach, Strawinsky, Rock-Musik, Jazz u. v. m. in seinen Werken, woraus ein neuer Tango entstand.

Darauf beruhte Piazzollas Hoffnung: „I have a hope: that my music will be heard in the year 2020 – and in 3000, too.” (S. 25)

(„Ich habe eine Hoffnung: dass meine Musik im Jahr 2020 gehört wird – und 3000 auch noch.“)

Piazzolla hat immer für sich beansprucht, Tangomusik zu komponieren. Nicht zuletzt bestärkt durch die richtungsgebende Aufforderung seiner legendären Pariser Lehrerin Nadia Boulanger.

Der Verschmelzung mit andern Kunstgattungen wie der Poesie, etwa in seiner Zusammenarbeit mit Jorge Luis Borges, um nur ein Beispiel zu nennen, stand dabei nichts im Wege. Im Gegenteil: „Literature was the magical habitat of Borges. (…) Music was the magical habitat of Piazzolla.“ (S. 166)

(Literatur war das magische Reich von Borges. (…) Musik war das magische Revier von Piazzolla.“)

Ihr Zusammenwirken öffnete neue musikalische und literarische Dimensionen.

Aber diese Wanderung zwischen den Welten, diese Vermischung der „Schubladen“ verschafft ihm bis heute auch die erbitterte Feindschaft derer, die dem Tango einzig seine Rolle als gefühlsintensiver, aber vor allem entspannender und bequem erfassbarer Tanzmusik zubilligen wollen.

Immer wieder – und Piazzolla litt unsäglich darunter – wurde die Berechtigung, seine Kompositionen Tango zu nennen, hinterfragt, bezweifelt, bekämpft.

Dazu eine Anekdote:

“His (Piazzolla’s) encounter with Ferrer was epochal in the history of popular music in the Rio de la Plata. As always, voices were raised to disqualify Piazzolla-Ferrer’s tango until singer Roberto Goyeneche put things in their proper place, and no one from tango’s conservative fringe bothered again.

It happened days after the world premiere of ‘Balada‘ by Amelita Baltar (at the Buenos Aires Song Festival at Luna Park, 1969). When asked if ‘Balada’ was a tango, Goyeneche narrowed his eyes, searched in his book of porteño sayings, and settled the issue with one line: ‘No, que va a ser un tango: es un tangazo!'” (S. 179)

(Es passierte einige Tage nach der Weltpremiere von ‚Balada‘, gesungen von
Amelita Baltar (auf dem Buenos Aires Song Festival im Luna Park, 1969).
Als er gefragt wurde, ob ‚Balada‘ ein Tango sei, kniff Goyeneche seine Augen
zusammen, suchte in seinem Buch nach typischen Porteño-Ausdrücken und löste
das Problem mit einer Zeile: 'Nein, was glaubst du, es ist einTango. Es ist eine Hölle von Tango!'“)

Piazzolla war nicht bequem, weder als Person, noch als Komponist. Seine Musik sagt es in jedem Stück mehr oder weniger deutlich.

Das Wichtigste für ihn ist, dass seine Musik umgesetzt wird, so wie er sie erdacht und geschrieben hat.

Er selbst tanzte wohl nicht, bis auf ein kurzes Intermezzo im Stepptanz als Kind, mit dem er gegen die Behinderung seines Beines ankämpfen wollte.

Mit Respekt und Bewunderung schreibt er jedoch von der professionellen tänzerischen Umsetzung seiner Musik im Ballett, so wie er die musikalische Realisation seiner Musik durch Sängerinnen und Sänger wünscht und fördert.

Berührend ist Gorins Schilderung der Show „Between Borges and Piazzolla“, die 1997, also fünf Jahre nach dem Tod des Komponisten, im Astral Theater in Buenos Aires aufgeführt wurde. Ein alter Kumpel von Piazzolla aus den 1950er Jahren, Juan Carlos Copes, choreografierte und tanzte: „(He) danced the second part of ‚Bandoneón‘ every night with his daughter Joana.

Copes had choreographed the whole show, but that piece had a distinctive feature: he danced it alone, carrying Johana, asleep, as Borges would say. That symbiosis of dance and music, that jam in ‘Bandoneón’ translated by Copes without arabesques, with his clean elegance, filled me with emotion but also with anger, and it revived an old question: how is it possible that in Argentina someone once said Piazzolla’s music was not tango?” (S. 165)

(„(Er) tanzte den zweiten Teil von ‚Bandoneón‘ jeden Abend mit seiner Tochter Joana.

Copes hatte die ganze Show choreografiert, aber dieses Stück hatte ein spezielles Format: Er tanzte es alleine, indem er Joana trug, schlafend, wie Borges es ausdrücken würde. Diese Symbiose von Tanz und Musik, diese Improvisation in ‚Bandoneón‘, die Copes schnörkellos, mit seiner reinen Eleganz darbrachte, erfüllte mich mit Emotion, aber auch mit Ärger und weckte eine alte Frage wieder auf: Wie ist es möglich, dass in Argentinien jemand sagen konnte, dass Piazzollas Musik kein Tango sei?“)

Bestimmt regen nicht alle Stücke Piazzollas jedermann zum Tanz an – so wie das generell für verschiedene Arten von Musik gilt. Was den einen aufs Parkett zieht, treibt andere in die Flucht.

Ganz sicher auch können nicht alle Laien-Tänzer oder Musiker Piazzollas Musik so umsetzen, wie er es in seinem hohen Anspruch gefordert hätte.

Wäre „Perfektion“ aber das einzige Kriterium, sich an Musik, an Kunst überhaupt, selbst zu versuchen, dann müsste man es besser gleich sein lassen.

Um Piazzollas Musik musikalisch oder tänzerisch auf einer Bühne adäquat darzustellen, bedarf es höchster musikalischer bzw. tänzerischer Fähigkeiten.

Tangomusik, auch die von Astor Piazzolla, lebt aber nicht nur von ihrer professionellen Gestaltung.

Auch Laien dürfen und sollten sich der Herausforderung immer wieder stellen und ihr Gehör und Bewegungsrepertoire daran schulen und messen.

Verboten hat das jedenfalls niemand. Und wenn durch die Übung – wenigstens nur für kurze Momente – diese Symbiose von Musik und Bewegung entstehen sollte und sich auch hier das berühmte Tango-Gefühl einstellt, ist man dem Genie Piazzolla vielleicht ein kleines Stückchen näher gekommen.

 

So weit Karins Besprechung eines wirklich empfehlenswerten Buches. Herzlichen Dank!

Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Ich habe mal auf YouTube nach getanztem Piazzolla gesucht. Da findet man dann vorwiegend zwei Stücke: Libertango und Oblivion. Nicht überraschend.

    3 schöne Ausnahmen:
    Deus Xango (Piazzolla/Mulligan) mit Chicho&Moira https://youtu.be/2QaHexyHkh4
    Cité Tango mit Chicho&Juana https://youtu.be/6Td4Bv_1VFE
    Prepárense mit Maria Dragone/Gaston Torelli https://youtu.be/er6Dd1yEwXI

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    1. Und zum Beispiel:

      Adiós Nonino https://www.youtube.com/watch?v=uFUQlq3bXUw oder https://www.youtube.com/watch?v=gLYRC1LHby4 oder https://www.youtube.com/watch?v=h3LqRTK9D8o

      Tango Apasionado https://www.youtube.com/watch?v=1CifcnZGIoE

      Escualo https://www.youtube.com/watch?v=snpraQZI5wI oder https://www.youtube.com/watch?v=bLMPB1gvXkE

      Milonga des Angel https://www.youtube.com/watch?v=bfLWxfPRtKs

      Invierno porteño https://www.youtube.com/watch?v=miqe0nhzLmM

      Primavera porteña https://www.youtube.com/watch?v=Yb8H9SsjfFI

      Concierto para Quinteto https://www.youtube.com/watch?v=1DZA1_Y_4gI

      Cité Tango https://www.youtube.com/watch?v=JSplSzMTtKs

      Romance del Diablo https://www.youtube.com/watch?v=8jFkVhd8iDc

      Preludio para el año 3001 https://www.youtube.com/watch?v=btsD1EG6wSE

      Cafè 1930 https://www.youtube.com/watch?v=t2uuT2jDlpU

      Vuelvo al Sur https://www.youtube.com/watch?v=LXzPrl-rE1k

      Celos https://www.youtube.com/watch?v=OzfJx138nis

      Prepárense https://www.youtube.com/watch?v=WmgH0erwZoU

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    2. guter tip. das buch steht seit jahren - inzwischen ziemlich zerlesen - in meinem bücherregal. habs immer wieder für meine artikel über AP genutzt.

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    3. der unknown heisst THOMAS KRÖTER. meine texte über AP sind zu finden unter www.kroestango.de

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    4. Lieber Thomas, vielen Dank! Ich hatte es mir schon gedacht, dass der Kommentar von Dir kommt. Wer schreibt schon - außer uns - deutsche Texte über Astor Piazzolla...

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  2. Robert Wachinger9. Juli 2021 um 22:57

    Hallo Gerhard,

    nach langer Zeit bin ich mal wieder auf deinen Blog geraten ...

    „Darf, soll, kann man auf die Musik Piazzollas Tango tanzen?“
    3 Fragen ... meine 3 Antworten darauf sind:
    - mir wurscht ob ich darf, ich tus einfach.
    - soll: natürlich muss niemand.
    - kann: es gibt Leute, die könnens, und andere, die könnens nicht. Was mich betrifft, kommt wieder Antwort eins zum tragen: mir wurscht, ob ichs kann, ich tus halt, weil ich die Musik mag (und weil mir wurscht ist, was die anderen denken).

    ;-)

    Ciao, Robert

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    1. Lieber Robert,

      dem ist fast nichts hinzuzufügen. Nur, dass diese Musik halt kaum einer auflegt.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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  3. Um so schöner, wenn es dann doch jemand tut. Und wenn mich dann gerade keiner zum Tanzen holt (was durchaus vorkommt, weil ich mich nicht hochgetanzt, sondern quereingestiegen bin), komme ich in Versuchung, tatsächlich alleine auf die Tanzflächen zu gehen.....
    LG Carmen

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  4. “Was den einen aufs Parkett zieht, treibt andere in die Flucht.”

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    1. Klar - und das gilt für beide Richtungen. Da hilft nur ein tangomäßiges Fremdwort: Toleranz.

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