Offene Antwort an einen Tangoveranstalter


Der Regensburger Tangoveranstalter Christian Beyreuther ist mir sowohl persönlich bekannt als auch im Internet sehr aktiv. Regelmäßig bewirbt er von ihm organisierte Milongas und schreibt auch Kommentare zu diversen Tangothemen.

Jüngst hat er in einer Facebook-Gruppe einen Beitrag verfasst, der zwar vom dortigen Thema abweicht, den ich aber gleichwohl sehr interessant finde. Daher erlaube ich mir, ihn (rechtschreibkorrigiert) zu zitieren:

„Es gibt Veranstalter, die setzen Codigos voraus, und andere wiederum nicht. In regulären Milongas bei kleinerer Szene macht das wenig Sinn, da man sich nicht reglementieren lassen möchte und letztendlich die Gäste ausblieben, ist ja auch verständlich.

Es gibt allerdings Veranstalter, die Eier in der Hose haben und die gewünschten Codigos deutlich benennen. Leider halt viel zu wenige. In Szenen, wo das Unterrichtsniveau stimmt, braucht es Codigos nicht, da diese selbstverständlich sind.

Zahlungskräftigen Anfängern verkauft man recht häufig choreografierte Schrittfolgen, um sie für nachfolgende Kurse bei Laune zu halten. Fundierter Unterricht dauert zu lange, und die Kunden springen wieder ab. Leider passen die einstudierten Schrittfolgen oftmals nicht in das Bild einer funktionierenden Ronda. Schnell entsteht dann ein Meinungsbild: Da ist es zu voll... da hat man keinen Platz... da bekommt man nur Tritte ab... da geh'n wir nicht mehr hin...

Was tun? Mund halten, alles bleibt, wie es ist? Viele Tänzerinnen und (Tänzer? – Anm. d. Verf.) trifft man auf heimischen Milongas nur noch selten an. Es muss doch einen Grund dafür geben? Sie tanzen bestimmt noch irgendwo, aber wo? Marathons, Maracuentros, Encuentros, Festivals? Dort, wo es klar definierte Regeln gibt?

Wenn die heimische Szene passt, muss man dann überhaupt reisen und mehr Geld in die Hand nehmen, um genussvoll zu tanzen? Es gibt Tänzerinnen und Tänzer, die trifft man regelmäßig in Madrid, Warschau, Wien, Udine... etc. Warum nicht in heimischen Milongas?

Beispiel einer Tänzerin: Jahrelang zieht man über regionale Milongas übelst her, sodass am Ende sogar Kunden wegbleiben. Zitat: Boden klebt, zu voll, zu heiß, kein Platz... aber irgendwann trifft man dieselbe Person bei einem Marathon mit überfüllter Tanzfläche. Da wundert's mich schon... wie? Nicht zu viel Leute, nicht zu heiß, nicht zu wenig Platz?!! Begründung: Ich möchte auch mal mit besseren Tänzern tanzen! Hä? Passt das Tanz-Niveau der regionalen Milonga letztendlich doch nicht? Woher kommt dieser Sinneswandel?

Einen Satz möchte ich noch hinzufügen: Egal, welche Musik-Richtung, egal, welcher Style letztendlich getanzt wird, jedem Veranstalter sollte man ehrliche Wertschätzung entgegenbringen. Auch wenn das eine oder andere nicht passt. Egal, ob Wohnzimmer-Milonga oder Edel Location-Milonga! Denn ohne diese Personen gäbe es keine Milongas! Sätze wie: ‚Da gehen wir nicht mehr hin‘ sind der Tod jeder Milonga. Wenn's dann soweit ist und eine Milonga dicht machen muss, weil zum Beispiel Gastronomiebetriebe die Räumlichkeiten zur Verfügung stellen (vermieten), weil der Umsatz nicht passt, finden dann auf einmal alle schade. Irgendwie komisch.“

Lieber Christian,

ich fürchte, es gibt tausend Gründe, warum jemand eine Milonga besucht oder nicht. Die einzelnen Motive zu erforschen ist sicherlich unterhaltsam und spannend, bringt jedoch nicht wirklich Erfolg.

Persönlich bin ich froh, dass viele Veranstalter zumindest offiziell keine Verhaltensregeln deklarieren – solche Milongas müssen nämlich ohne mich auskommen. Wobei das nicht heißt, dass den Organisatoren das Verhalten ihrer Gäste egal sein darf – im Gegenteil: Diese verdienen jede Menge positive Aufmerksamkeit – und selten auch einmal negative. Allerdings nicht, wenn sie den Cabeceo unterlassen oder auf der Piste überholen, sondern schlicht ein Benehmen zeigen, das auch auf jedem Tanzschul-Ball oder in jeder Disco (hoffentlich) nicht akzeptiert würde.

Daher sehe ich als wichtige anatomische Eigenschaft eines Tangoveranstalters eher die Empathie im Herzen als die Eier in der Hose.

Wie du selber schreibst, werden Códigos auf  „normalen“ Milongas tendenziell als unerwünschte Reglementierung betrachtet. Das geht mir auch so. Jeder Gastgeber kann von mir erwarten, dass ich niemand auf der Piste remple oder behindere – nicht jedoch, dass ich nach künstlichen Regeln tanze, deren Sinn sich mir nicht erschließt. Und wie ich eine Tänzerin auffordere, geht den Veranstalter, so ich diese nicht wirklich nötige, einen Schmarrn an.

Aber klar: Wenn der meint, irgendwelche Códigos verkünden zu müssen, soll er zu seiner Überzeugung stehen. Wenn es sonst halbwegs passt, wird er auch hierfür Kundschaft finden – es gibt genug Menschen, für die der Hauptsinn des Lebens in möglichst vielen Vorschriften besteht, nach denen sich vor allem die anderen richten sollen. Der oft verwendete Vergleich mit dem Straßenverkehr trifft hier tatsächlich ins Schwarze.  

Und sicherlich bin auch ich froh, wenn Tanzende im Unterricht gelernt haben, anderen auszuweichen und den freien Platz kreativ zu nutzen, anstatt an eingepaukten Figuren-Kombinationen zu hängen. Was das mit den üblichen Códigos zu tun hat, weiß ich jedoch nicht. Wenn es allerdings allzu voll ist, muss jeder selbst entscheiden, ob er dann noch aufs Parkett will – oder auf die Autobahn, wenn der Verkehrsfunk schon zehn Kilometer Stau verkündet.

Wer sich also ständig behindert fühlt oder öfters Tritte abbekommt, sollte sich überlegen, ob er sich mit seinen Navigations-Fähigkeiten wirklich ins dickste Gewühl stürzen muss. Das einzige, was ein Veranstalter hiergegen unternehmen kann, ist, eine größere Räumlichkeit zu suchen – und er darf sich nebenbei freuen, dass seine Milonga einen derart großen Zuspruch findet.

Die Sorge, dass vormals in der lokalen Szene Tanzende nun auf ferne Events ausweichen, ist für einen Veranstalter verständlich – sie bringt aber nichts.

Menschen verreisen grob gesagt aus zwei Gründen: Sie wollen wo hin oder wo weg – aber ich glaube nicht, dass die Flucht vor den so unpassenden heimischen Veranstaltungen der Hauptgrund ist. Wieso müssen viele – auch ohne Tangobezug –  im Urlaub unbedingt unter großen Mühen hunderte oder gar tausende Kilometer an einen Ort reisen, wo sie die Sprache nicht verstehen, schlechter wohnen und essen als zu Hause, kaum ungestört schlafen können – und oft noch Bekanntschaft mit Parasiten machen, gegen die sie keine Abwehrkräfte besitzen? Und das noch zu einem erheblichen finanziellen Mehraufwand?

In erster Linie locken halt der Kulissenwechsel, die Exotik und das Abenteuer – sowie die Aussicht, von alledem zu Hause berichten zu können. Bei externen Tangoveranstaltungen kommt einschränkend noch dazu, dass man an vielen Orten immer wieder dieselbe Lemmings-Population vorfindet, was offenbar doch vor Heimweh schützt.

Vor allem aber: Man ist Teil einer exklusiven Gesellschaft, da solche Events ja häufig eine Zugangsbeschränkung haben. Je härter der Türsteher, desto angesagter die Disco. Das rangordnungsmäßige Upgrading ist aus meiner Sicht ein Hauptmotiv für Reisende, die man nicht aufhalten sollte.

Treffen sich dort die „besseren Tänzer“? Dieser Begriff ist äußerst schillernd. Versteht man darunter Menschen, die es mit standardisiertem Mini-Getrippel schaffen, in der Ronda ständig den exakt gleichen Abstand zum vorderen und hinteren Paar einzuhalten? Oder solche, die auch mal schwierig und dynamisch tanzen können, wenn es die Musik ermöglicht? Das ist eine hochgradige Geschmackssache.

Nach 20 Jahren und sicherlich über 3000 Milongas kann ich nur sagen: Paare mit einem individuellen, vielleicht eigenwilligen, jedenfalls gekonnten Tanzstil findet man auch auf jeder Dorfmilonga – und dort vielleicht sogar öfter, da man sie nicht mit Códigos einschränkt. Persönlich zieht mich daher nichts auf „angesagte“ Events, dort ist es nach meinen Erfahrungen nur voller, teurer und – arroganter.

Lieber Christian,

du hast sicher recht mit deinem Appell, jedem Tango-Veranstalter Wertschätzung entgegenzubringen – vor allem, wenn er aus purem Enthusiasmus und nicht aus finanziellen Gründen aktiv ist. Ich kann aber allen Organisatoren (und auch DJs) nur raten, ihr Event genau nach ihren persönlichen Vorstellungen zu gestalten und nicht aufgrund von Marketing-Überlegungen. Ob dann 10 oder 200 Gäste erscheinen, darf uns nichts ausmachen und sollte vor allem nicht dazu führen, nun eine „Publikumsbeschimpfung“ zu betreiben. Ob man als Aficionado ständig draufzahlen, auf ein kleineres Format umstellen oder ganz aufhören möchte, ist eine Sache der (auch finanziellen) Schmerzgrenze des Einzelnen.

Damit wäre beim Tango endlich ein Begriff berechtigt, den man viel zu häufig missbraucht: authentisch. Und manchmal honorieren das sogar die Gäste...

Herzliche Grüße
Gerhard

P.S. Übrigens müssen die Begriffe „Wohnzimmer- Milonga“ und „Edel Location-Milonga“ keinen Widerspruch bedeuten. Ich spreche da aus Erfahrung…

Kommentare

  1. Lieber Gerhard,

    herzlichen Dank für deinen offenen Bericht zu einem meiner Facebook Postings. Einem von ca. einhundert voran gegangen Postings, im selbigen Facebook Blog.

    Wenn man nun meinen einzelnen Beitrag separat betrachtet, kommt dieser natürlich, wie du richtig erkannt hast, unstrukturiert und dem ursprünglichen Thema abweichend rüber. Dennoch erschien dir mein Beitrag für dich interessant genug, um dem geschriebenen deine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

    Herzlichen Dank für deine Rechtschreibkorrektur. In der heutigen Zeit von digitalen Medien und Werkzeugen, mit diversen Autokorrekturen von Smartphones oder Tablets, ist man teils Opfer von einschleichenden Fehlern mit einer gewissen Eigendynamik. Ich sag nur Autokorrektur… Shit happens!

    Ich gebe zu, dass ich so manch wiedergegebene Passagen, von Emotionen begleitet zu Papier gebracht habe.
    Meine Absicht besteht nicht darin, mich über Personen oder Personengruppen zu beschweren und ihnen Vorschriften zu machen.

    Meine Anmerkung, es gibt Veranstalter die „Eier in der Hose“ haben und Codigos benennen, stammt nicht von mir, sondern von einem Tänzer, der mir über eine in Berlin ansässige Milonga berichtete. Leider habe ich es versäumt hier mehr Klarheit einfließen zu lassen.

    Als Veranstalter freue ich mich über eine Tango-Szene die lebt und die vielfältiger nicht sein kann. Ich wünsche allen Tänzerinnen und Tänzer, die Spaß der Musik und Körperbewegung haben, viele schöne Abende in Harmonie und Freude.

    Lieber Gerhard, alles Gute für dich.

    Herzliche Grüße,

    Christian

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    1. Lieber Christian,

      vielen Dank für Deinen Kommentar! Ich weiß ihn zu schätzen; die meisten Veranstalter reagieren offiziell nicht auf Artikel von mir – auch wenn sie direkt angesprochen werden.

      Meine Anmerkung, dass ich das Zitat von Dir rechtschreibkorrigiert verwendet habe, war nicht als Kritik gemeint. Aber nachdem mir schon öfters vorgeworfen wurde, „falsch“ zu zitieren, erwähne ich es, wenn ein Text nicht wortwörtlich von mir übernommen wurde. Und ich versuche, es meinen Lesern möglichst einfach zu machen, indem ich solche sprachlichen Korrekturen verwende.

      Allerdings gibt es z.B. auf Facebook eine Korrekturfunktion – man kann Geschriebenes also durchaus nachher noch verbessern.

      Erst recht nicht ist es zu beanstanden, wenn man sich über Tango emotional äußert – ich finde, das kommt dem Thema sehr nahe.

      Man sollte Texten aber schon entnehmen können, ob man eine Ansicht selber vertritt oder lediglich über Äußerungen anderer berichtet.

      Viel mehr als das Formale hätte mich interessiert, was Du inhaltlich zu meinen Vorstellungen meinst. Aber es ist halt wie im Tango – man kann eine Bewegungsoption zwar anbieten, aber nicht erzwingen. Dass Du immerhin die Vielfalt im Tango begrüßt, freut mich natürlich sehr.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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