Allein stehende Frauen



Anekdote: Bei unseren Ausflügen ins südlichste Bayern treffen wir ab und an einen österreichischen Tänzer. Als dieser zum ersten Mal meine Frau aufforderte, sprach er nach dem ersten Tango mit seligem Blick und im Idiom seiner Heimat: „Mei… a Wunder… a Frau, die selber stehen kann!“ 

Vor einiger Zeit hatte ich auf einer Milonga ein Déjà-vu-Erlebnis: Wir trafen ein Paar wieder, das wohl fast so lange tanzt wie wir. Offenbar bewegen wir uns weitgehend in unterschiedlichen Tangokreisen, da wir einander nur höchst sporadisch sehen.

Die beiden sind hervorragende Tänzer, und deshalb war meine Frau sehr glücklich, alsbald von dem Mann zu einer längeren Runde gebeten zu werden. Klar, dass ich eine entsprechende Aufforderung seiner Frau folgen ließ. Meiner Erinnerung nach tanzten wir zunächst eine traditionelle Tanda zu Ende und probierten dann noch etliche moderne Aufnahmen. (Für die im „neuen Geist“ erzogenen Tangomenschen: Ja, das geht!)

Mein Gefühl von Anfang an, und bei den „abgedrehteren“ Stücken erst recht: Da war etwas, das ich beim Gros der heutigen Tänzerinnen nicht mehr finde! Als Erstes schon einmal dieser Andruck, die klare Belastung nach vorne, eine Präsenz im Oberkörper, welche sich nie abschwächt oder gar abreißt. Und das – für’s staunende Publikum von heute – trotz sich laufend verändernder Abstände im Paar! Weiterhin eine blitzsaubere Technik, die dafür sorgte, dass die Kräfte stets in der Mitte zentriert blieben, ein riesiger Fundus choreografischer Erfahrung inklusive.

Selbstredend konnte vom „Führen“ im klassischen Sinne nicht die Rede sein, vielmehr war es ein intensiver Dialog mit dieser Gratwanderung zwischen beiderseitigen kreativen Vorschlägen und dem ständigen Achtgeben auf den anderen – halt Tango wie dereinst! Dazu die Musikinterpretation Lichtjahre entfernt vom gleichförmigen Heruntertanzen des Rhythmus, vielmehr ein ständiges Spiel mit diesem, spannende Experimente damit, welches Instrument wir nun gerade als führend oder interessant empfanden und uns daher in dessen Duktus begaben. Und besonders die bedingungslose Hingabe an die Emotionen dieser Klänge sowie – man verzeihe mir das heute hart klingende Wort: Leidenschaft.

Zum Schluss beiderseitiges Sternchenfeuerwerk in den Augen – ja, es war überirdisch, vielen Dank, bis zum nächsten Mal!

Ich habe damals auf dem Heimweg und auch noch später viel über diese Tanzrunde nachgedacht. Was war eigentlich der zentrale Punkt, damit das alles so gelingen konnte? Ergebnis: Diese Tanguera gehört einer heute aussterbenden Spezies an – den „allein stehenden Frauen“. Will sagen, ich hätte sie mitten in der wildesten Bewegung sich selber überlassen und mir etwas zum Trinken holen können, sie hätte in genau dieser Pose auf mich gewartet (würde ich natürlich nie tun – wenn’s doch grade so spannend ist…).

Leider wird die Fähigkeit, die eigenen Bewegungen hundertprozentig im Griff zu haben, heute kaum noch von den Tänzerinnen verlangt. Stattdessen tanzt man bekanntlich in der allein selig machenden Klemmgriff- und Schraubstockhaltung, welche den weiblichen Part auf „Folgen wie Lumpi dem Herrchen“ reduziert.

Anekdote: Mein Vater, von dessen Tanzgenen ich wohl profitiere, erzählte mir oft von einer Showtanznummer, die er bei einem Ball Ende der 30-er Jahre vollführte: Eine sehr schmiegsame Puppe hatte er in ein Kleid gesteckt und mittels Gummibändern an seinen gamaschenbewehrten Füßen befestigt. Völlig synchron, wenngleich etwas unselbstständig, vollführte diese „Muñeca brava“ mit ihm dann die wildesten Figuren, die Begeisterung des Publikums kannte keine Grenzen!

Wenn ich diese Nummer mit dem heute Gebotenen vergleiche, stelle ich einen identischen Grad an Passivität fest – nur das entsprechende Hochgefühl bleibt aus. Die modernen Tanzpuppen zwingen den Partner nämlich in eine monotone Bewegung. Da sie ja kaum die eigene Balance erproben, geschweige denn festigen konnten, fallen sie bei jedem Taktschlag auf den schon längst dringend benötigten nächsten Fuß – da kann die Musik klingen, wie sie will: zart verklingendes Ritardando… trab… Sänger, der vier Ganztöne hintereinander aushält… trab… atemlose Pause vor dem nächsten dynamischen Impuls… trab… plötzlicher Stakkatoeinwurf… kein Trab, da noch zu früh... feine rhythmische Spielereien… blubb (nix gehört)!

Ein einfacher Test besteht für mich darin, bei passender musikalischer Gelegenheit einmal die Tanzhaltung weiter zu öffnen. Fast stets spüre ich die sofort um sich greifende Panik: Huch, mich hält ja keiner mehr! Dass der sich nunmehr bietende Freiraum so nicht zur Gestaltung eigener Ideen genutzt wird, sondern zur Suche nach dem Gleichgewicht, versteht sich von selbst.

Umgekehrt wird es noch dramatischer: Sollte es einem gelungen sein, der Tanzpartnerin doch einmal ein höheres Tempo zu verleihen, muss man einen plötzlichen Stopp in der Musik mit Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit ignorieren – oder haben Sie schon einmal versucht, eine in Fahrt gekommene Bergwerkslore ansatzlos aufzuhalten? Trotz eines Keils an den Rädern dürfte sich wohl außer einem schrillen Kreischen kein unmittelbarer Erfolg einstellen…

Um hier einmal die Frage eines Traditionalisten neulich auf meinem Blog zu beantworten: Was Leute wie er mir eigentlich wegnehmen würden? Genau das: Zu meiner „guten, alten Tangozeit“ blieb schon Anfängerinnen nichts anderes übrig, als sich auf die vertracktesten Rhythmen, die abgefahrensten Klänge einzustellen, darauf, dass der Tänzer die Haltung erweiterte, ja vielleicht sogar zwischenzeitlich ganz aufgab, zu jedem Moment etwas Neues kommen konnte, eigenständige Aktionen willkommen waren.

Heute dagegen reicht es völlig, im Klett-Verschluss mit der Partnerbrust im Langweiler-Vierviertel hintan zu schreiten. Die eigene Kraft zu entwickeln, sich auf die Energie der Körpermitte zu besinnen – im Tango wie im Leben? Viel zu schwierig, vergiss es, kommt auch bei den Männern schlecht an! Dass auf diese Weise junge, begabte und sportive Tänzerinnen in vielen Szenen schon eine Ausnahmeerscheinung darstellen, wird offenbar klaglos hingenommen. Reicht ja, im Altersbereich zwischen Delirium und Demenz in der „beschützenden Tanzwerkstatt“ etwas zu vollführen, was auf hundert Meter Entfernung einem Tango ähnelt. Die Ronda als „Senioren-Tanzkreis“ – „50+“ beschreibt hierbei nicht die Stundenkilometer…

Dies entkräftet hoffentlich auch den Vorwurf, ich hätte in meinem Beitrag „Frauenschelte“ geübt. Nein, das in dieser Hinsicht tatsächlich mal „schwächere Geschlecht“ ist – wie auch oft genug im realen Leben, ein „Opfer der Verhältnisse“.
Dass man diese allerdings als Frau verändern könnte, bleibt trotzdem wahr. Wie wäre es mit alleinigem Üben, aktivem Aufordern, Erlernen der führenden Rolle oder wenigstens dem Stellen lästiger Fragen, beispielsweise am DJ-Pult? Ich weiß: Viel zu anstrengend, da könnte man ja ins Schwitzen kommen!

Ich selber habe ja eher geringere Gründe, mich zu beschweren – bei meinem Privileg, mit Frauen das Parkett betreten zu können, die noch „tanzen wie früher“. Herzlichen Dank – wenn auch die Mauern brechen, die Erinnerung bleibt – und zum Tango gehört ja zwingend die Nostalgie!

Anekdote (böses Ende): Ich hatte noch nicht erwähnt, dass mein Vater bei seiner „Tanzshow“ (übrigens Langsamer Walzer und Tango!) die entscheidenden Rundungen seiner Puppe mittels unter dem Kleid versteckter Luftballons modelliert hatte. Zum Ende der Darbietung holte er heimlich eine Stecknadel aus dem Revers und ließ durch gezielte Stiche die Luft aus der Dame, welche sofort kläglich zusammenschrumpelte, worauf sie mein alter Herr weinend und klagend – sowie unter dem Jubel der Meute – ins Off transportierte.
Bei so mancher Traditionshulda neueren Zuschnitts habe ich mir nach drei Tänzen schon überlegt, was denn nun passieren würde, wenn ich gleichfalls und im Gedenken an frühere Zeiten ein kleines Nädelchen…
Nein, war natürlich nur Spaß – und man weiß ja auch nicht, wer spitzer ist!

Kommentare

  1. ... und die Herrn der Schöpfung scheinen's auch nicht mehr gewohnt zu sein, die Tanzpartnerin NICHT vor spontanem Umfallen schützen zu müssen. Immer öfter stelle ich mit Erstaunen fest, dass, sobald eine Drehung initiiert, der Schraubstock gleich mit ausgepackt wird und Schweiß auf der Stirne perlt (Angstschweiß?).
    Ist Tangotanzen harte Arbeit?

    Ich fühle mich in solchen Situationen manchmal wie einer dieser unkommod-schwergewichtigen Marktsonnenschirme, der in seinen Ständer gewuchtet wird. Im Gegensatz zu einem solchen besitze ich allerdings die Fähigkeit zur aktiven Bewegung (einer der "Leben definierenden" Aspekte) – sowie sogar die zur flexiblen Abstimmung mit den Bewegungen des Partners. Echt wahr! Da schaugst, gell?

    Zum einen wäre mein Sturz auf den Tänzer nicht lebensgefährlich: weniger als 50 Kilo dürften keine heftigeren Schäden verursachen.
    Zum anderen: He! Ich habe eine (sogar ganz gut funktionierende) Achse! Bitte lasst mich selbige auch benutzen!

    Liebe Männer, ihr dürft diesen Teil der Verantwortung da abgeben, wo er hingehört: bei eurer Tanzpartnerin. (Und kein göttlicher Blitz wird vom Himmel herabfahren.)
    Vielleicht werden die Damen ein bissele muffeln. „Allein stehen“ lernen ist nicht ganz leicht, verlangt geduldiges Üben und verursacht vielleicht seelische und physische Irrungen und Wirrungen.

    Je besser ich selber stehen kann, um so mehr kann ich mich auf den anderen einlassen: Das ist für mich die Schwelle zum TANZEN – mit Leib und Herz und Seele, miteinand' Tangohochgenuss verkosten.

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    1. Vielen Dank für die Schilderung der weiblichen Perspektive!
      Natürlich ist das eine Wechselwirkung: Frauen, die nicht stehen können, und Männer, die sie dann festhalten.
      Die Wurzel beider Übel ist halt eine Musik, welche nicht wirklich zu eigenständiger Gestaltung zwingt, sondern notfalls mit einer solchen "Friedhofsprozession" umsetzbar ist.
      Lohnt es sich gemeinhin überhaupt noch, sich in die höheren Levels des Tanzens zu begeben? Mit wem? Und zu welcher Musik?

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