Die ignorierten Musiker – Tipps für Weihnachtsgeschenke
Zum nahenden
Christfest könnte der eine oder andere Tangomensch auf die gute Idee kommen, einem
verehrten Tanzpartner bzw. gar sich selber ein Geschenk in Form von
Tangoklängen zu machen. Immer wieder werde ich auf die Musikbeispiele in meinem
„Milonga-Führer“ angesprochen. Groß ist oft das Erstaunen, was da alles
zusätzlich zu dem auf landläufigen Milongas Gebotenen existiert.
Nach meiner
Erfahrung tendiert der musikalische Überblick (um das harte Wort “Wissen“ zu
vermeiden) des durchschnittlichen Tangotänzers gegen Null. Er nimmt halt das,
was ihm auf dem Parkett zur bewegungsmäßigen Umsetzung vorgesetzt wird, und
dies besteht an vielen Orten im Wesentlichen aus tausendmal abgenudelten
Einspielungen von zirka zehn Orchestern aus der berühmten „Goldenen Epoche“ von
1935 bis 1955 – eventuell noch garniert mit einem Quäntchen Pop, welches meist
mit dem Tanz vom Rio de la Plata wenig bis nichts zu tun hat.
Sicher mehr
als zwei Drittel des musikalischen Schaffens im Tango werden hierzulande von
Veranstaltern und DJs dem Publikum eisern vorenthalten – und was man nicht
kennt, kann man auch nicht vermissen. Es wäre daher sicherlich eine gute Idee,
die Erleuchtung des Christbaums mit einer musikalischen zu verbinden. Zwei
Warnungen vorab: Wie jeder künstlerische Bereich ist dieser natürlich vom
persönlichen Geschmack abhängig, allerdings gleichermaßen davon, sich solchen
Eindrücken erst einmal auszusetzen. Ebenso wahr bleibt, dass moderne
Arrangements sich meist schwieriger, vielleicht sogar „sperriger“ anhören – der
Niveauunterschied zwischen Francisco Canaro und Astor Piazzolla ist eben nicht
wesentlich kleiner als der Sprung von Dieter Bohlen zu Ludwig van Beethoven…
Die von mir
empfohlenen Interpreten stellen nur eine kleine Auswahl dar, die sich fast
beliebig vermehren ließe. Aber der Appetit kommt bekanntlich beim Essen, zu dem
ich viel Vergnügen wünsche!
Beispielsweise
könnte man sich einmal mit dem Sänger Roberto
Goyeneche beschäftigen, welcher ab 1944 (also schon zu „EdO-Zeiten“)
insgesamt mehr als 100 Schallplatten produzierte, mit berühmten Orchestern wie
dem von Anìbal Troilo auftrat und zu seiner Zeit unzählige Fans hatte (nur
nicht bei den deutschen DJs von
heute). Grund dafür dürfte vor allem seine anklagende, heisere Baritonstimme
sein – sie verkörpert die Zerrissenheit vieler Tangostücke mit hohem
„Gänsehaut-Faktor“. Daher will man wohl vermeiden, dem bürgerlichen Publikum
von heute solche „Stimmungskiller“ vorzusetzen. Aufnahmen gibt es dennoch wie Sand
am Meer, z.B. die CD „Roberto Goyeneche – El único“ (mit dem Orchester Atilio
Stampone, BMG Ariola Argentina, 1997).
Eine Art
„Nachfolgerin“ stellt die ehemalige Rocksängerin Adriana Varela dar (auch hinsichtlich ihrer „Beliebtheit“ bei
hiesigen DJs): Seit 1991 gibt sie mit ihrer rauchigen Altstimme vielen traditionellen
Tangos das bittere, oft verzweifelte Gepräge, das in ihnen steckt. Als Beispiel
sei die CD „Tango envivo“ empfohlen
(Nueva Direccion en la Cultura 2003). Wie sie dort alte Kompositionen wie „Malena”
oder „Los Mareados” interpretiert, ist Lichtjahre entfernt vom Timbre
blankpolierter Tenöre früherer Zeiten, die sich bei diesen Werken in bewusster
Verharmlosung des Inhalts über den Text hinweg mogelten.
Tango Amoratado: Das Duo aus dem Pianisten Fabian
Klenzke und Jürgen Karthe (für mich derzeit der beste deutsche
Bandoneonspieler) interpretiert vorwiegend Klassiker in modernen Arragements
mit filigraner, einfühlsamer und technisch hochstehender Spielweise; eine
Inspiration für Tänzer! Bisher gibt es drei CDs: „Tango amoratado“, „Romantica“
sowie „Corazón al Sur“ (auris-subtilis 2005, 2008 und 2013).
Das
argentinische Geschwisterpaar Lidia und
Luis Borda ist mir unvergesslich seit dem Film „12 Tangos – Adiós Buenos
Aires“ (enja records 2005 bzw. als
DVD von Sunfilm Entertainment 2010). Der Gitarrist und Komponist Luis Borda
leitet darin ein „All-Star-Orchester“, das mit einer unglaublichen Intensität
musiziert, und Lidia Borda gibt dem verträumten Vals „El Paisaje“ sowie dem
schmelzenden Tango „Pampero“ ihre unverwechselbar sonore, einschmeichelnde
Stimme. Das ist der Tango des neuen Jahrtausends!
„Der letzte Applaus“ (Arsenal Filmverleih GmbH 2009) ist
ein dokumentarischer Film von German Kral, musikalisch wiederum von Luis Borda
betreut. Zentrum ist die Vorstadtkneipe „El Chino“ in Buenos Aires, wo eine
Reihe von Sängern und Musikern seit Jahrzehnten auftritt. Durch den Tod des
Inhabers stehen die älteren Künstler nun auf der Straße und können ihre
Leidenschaft für die Tangomusik nicht mehr ausleben. Ein letztes Mal inszeniert
der Regisseur für sie mit dem jungen „Orquesta tipica imperial“ ein vielbejubeltes
Konzert. Auch der Soundtrack des
Films „El último aplauso“ (enja records, München 2009) ist eindrucksvoll: Man
muss nur hören, wie die damals 85-jährige Sängerin Inés Arce den hierzulande
ebenfalls vergessenen Gardel-Titel „Cuando tú no estás“ interpretiert, um zu
begreifen, wie nahe der Tango dem Leben kommen kann!
Ein
Ausnahmetalent ist sicherlich auch der Sänger Ariel Ardit, der mit der Gruppe „El Arranque“, aber auch mit anderen Formationen oder der Sängerin
Lidia Borda umjubelte Konzerte gibt. Singen lässt man ihn im deutschsprachigen
Raum zwar schon – wie ich aber selber erleben durfte, wählt man für die
anschließende Milonga dann wieder Dudelmusik… Wenn man jedoch hört, wie er
beispielsweise dem 1941 entstandenen Stück „Mariposita“ eine unglaubliche
Mischung aus Dynamik und Zartheit verleiht, mögen andere dazu sitzen bleiben –
ich kann es nicht (siehe das obige Video dazu)!
Der Film „Café de los maestros – Die großen Meister
des Tangos“ (Kinowelt Home Entertainment, Leipzig 2009) beschreibt die
Proben zu einem Auftritt im legendären „Teatro Colón“ in Buenos Aires, bei
denen u.a. Musik-Legenden wie Luis Stazo, Leopoldo Federico, José Libertella,
Emilio Balcarce, Virginia Luque und Mariano Mores mitwirken. Neben vielen
Geschichten und Erinnerungen erlebt man, wie sich schrittweise ein
unglaubliches Zusammenspiel entwickelt. Höhepunkt des Streifens ist ein
Konzertmitschnitt, der atemlos macht. Was mich am meisten beeindruckte: Obwohl
die „Maestros“ deutlich die Siebzig überschritten haben, strahlt ihre Musik
eine Jugendlichkeit und Frische aus, welche Lichtjahre von dem Geplemper auf
vielen deutschen Milongas entfernt ist!
Den 1930
geborenen Bandoneónspieler, Orchesterchef und Komponisten Luis Stazo habe ich vor einigen Jahren einmal live bei einer
Tangoshow erlebt und zehre heute noch von diesem Eindruck. Die Dynamik und
Frische, mit denen er und seine Gruppe traditionelle Stücke, aber auch
Piazzollas „Libertango“ interpretierten, könnten doch den Bogen spannen
zwischen der Moderne und Orchestern wie dem von Lucio Demare oder Alfredo de Angelis, mit denen er in seiner
Jugendzeit bereits auftrat! Als CD-Empfehlung: Sexteto Stazo Mayor - „Tango con
Pasión“ (MS Produktion/Manuela Stazo 2008).
Zum berühmten
Sexteto Milonguero, das ausnahmsweise sogar gelegentlich auf deutschen Milongas
gespielt wird, gibt es eine osteuropäische Entsprechung: Das serbische Quintett
„Beltango“. Auf seiner CD „Beltango: Trilogia“ (ArtLab 2007) bietet es auf drei CDs traditionelle Titel,
Piazzolla-Stücke sowie „Balkantango“. Die öfters vertretene Ansicht, moderne
Tangomusiker kämen in der Spielqualität nicht an ihre „alten“ Vorbilder heran,
wird hier grandios Lügen gestraft. Die Virtuosität, mit der Klassiker wie
„Canaro en Paris“, „Nostalgias“ oder der Dynamik-Kracher „Nocturna“ von Julian
Plaza dargeboten werden, ist unerreicht. Und die „Tanzbarkeit“? Ich würde hier
eher das Prädikat „nicht dazu sitzbar“ verleihen…
Gerne gestehe
ich, ein überzeugter Fan der Gruppe Las
Sombras zu sein: Auf ihren CDs „Tango Café“ sowie „Casino Tango Noir“ (GLM
Music GmbH 2010 bzw. 2012) bietet das Quintett völlig eigenständige,
energiegeladene Interpretationen von traditionellen Tangos, aber auch Stücke moderner
Autoren und Eigenkompositionen. Die Querflöte als ursprüngliches Tangoinstrument
wird wiederentdeckt und kontrastiert mit dem hier ungewöhnlichen Saxophon. Dass
die Gruppe eher Konzerte gibt als auf Milongas spielt, ist meines Wissens nicht
deren Schuld. Ein Musikbeispiel habe ich hier im Blog bereits vorgestellt: die
mitreißende Interpretation der „Milonga de mis amores“ (ebenfalls
ein Klassiker von Pedro Laurenz aus dem Jahr 1938).
Mir wär's manchmal wirklich lieber, wenn ich nicht Recht hätte - stattdessen kommt es gerne noch schlimmer, als ich befürchte!
AntwortenLöschenErst gestern durfte ich mich wieder mit dem Ansinnen eines Veranstalters beschäftigen, ob ich bei einer Milonga "Tango nuevo" auflegen könnte. Meine Antwort: Gerne, das wäre dann aber Piazzolla, Mosalini, Mederos etc. - nicht Neotango oder Elektrotango, und schon gar keine tangoferne Popmusik. Zudem legte ich gerne moderne Einspielungen (nach 1960) klassischer Tangos auf - also von Sexteto Mayor bis Sexteto Milonguero, Beltango etc.
Antwort: Na ja, Piazzolla sei halt immer sehr kompliziert, man wolle die Gäste ja schließlich nicht überfordern. Also irgendwie solle es schon was Modernes sein, aber halt net zu schwerig...
Na prima, solche Gigs kenne ich: Kaum lege ich dann zehn Minuten etwas oberhalb des Niveaus von Biagi oder Tanturi auf, steht voraussichtlich eine Rentnerdelegation vorm Tresen und möchte "Salontango". Nein, danke!
Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Dies ist das geballte "Fachwissen" von Leuten, die heute für den Tango Verantwortung tragen!
Harald Schmidt hat einmal erzählt, dass er in seiner Jugendzeit öfters Klavier bei Seniorennachmittagen spielen durfte (so auf "Schneewalzer-Level"). Der häufigste Publikumskommentar sei gewesen: "Schmidt, spiel mal leiser!"