Das Coaching-Zeitalter

 

Derzeit fiebert ja die halbe Nation mit unserer Fußball-Nationalmannschaft, obwohl die seit der letzten Weltmeisterschaft – wo man in der Vorrunde ausschied – eher bescheidene Spiele zeigt.

Auch wenn man es bei mir nicht vermuten sollte: Durch meinen sportbegeisterten Vater wurde mir schon früh das „Fußball-Gen“ eingeimpft. Immerhin war der mal im Vorstand der Fußballabteilung des ESV Ingolstadt, aus dem vor über 15 Jahren, zusammen mit dem örtlichen MTV, der FC Ingolstadt 04 hervorging.

Was mein lieber Vater zum jetzigen Auftreten unserer Nationalspieler gesagt hätte? Ich meine, wir wären uns da ziemlich einig gewesen: „Die spielen, als wenn sie die Hosen voll hätten.“

Zufällig bekam ich nach dem verlorenen Frankreich-Spiel ein Interview mit Robin Gosens mit, in dem er gefragt wurde, wie denn die Botschaft des Bundestrainers für den Wettkampf mit Portugal ausgefallen sei? Ja, Jogi Löw hätte viel mit den Spielern gesprochen. Und was? Er hätte gesagt, dass wir in den Wettkampf-Modus schalten müssten, weil heute ein Alles-oder-Nichts-Spiel sei. 

Ich bin in dem Moment vor Lachen fast von der Couch gefallen: Ach, das muss man denen noch extra sagen! Ja dann…

Nach meinem Eindruck spielen sie auch so: Querpass, Rückpass, Zögern, wohin man nun abgeben soll - irgendwie „ferngesteuert“, bloß keine Fehler machen. Mutige Einzelaktionen sieht man nur selten.

Was ich am Fußball immer mehr vermisse, sind sperrige „Typen“, die sich auch mal nicht an das vom Trainer verordnete „System“ halten, Alleingänge wagen. So wie dereinst Günter Netzer, der sich beim Pokalfinale 1973 zu Beginn der Verlängerung selber einwechselte und unmittelbar nach dem Anpfiff das Siegtor schoss:


https://www.youtube.com/watch?v=yPVpJlYWTlg

Ich fürchte, das liegt am Trainer. Nicht an der konkreten Person, sondern an der Dominanz der Trainer generell. Auf die Spieler wird unentwegt eingeredet, statt dass sie unter sich das Zusammenspiel üben.

Mich erinnert das an unsere früheren Trainingsstunden in den Standard- und Lateintänzen. Da wurde meist eine neue „Folge“ erklärt: minutenlanges Gequassel, Vortanzen. Oft kam ich kaum dazu, das Ganze mit Karin länger als 30 Sekunden am Stück zu probieren, da unentwegt unterbrochen wurde: „Nein, schaut noch mal her…“ – Vortanzen, Gequassel…

Übungen in sportlichen und tänzerischen Bereichen sind heute streng trainerzentriert: Der weiß schließlich, wie‘s geht – und erzählt es leider ohne Ende. Gut ist es dann nur, wenn man es so macht wie er – oder wie er meint, dass er es macht. 

Auch denen, die sich nicht für Fußball interessieren, sei das Buch „Die 84. Minute“ von Horst Eckel empfohlen, dem letzten noch lebenden Spieler der legendären deutschen Mannschaft, die 1954 das „Wunder von Bern“ zustande brachte: den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft als krasser Außenseiter.

Der damals 22-jährige Eckel beschreibt darin, wie er die Anfangsgründe dieser Sportart erlernte – auf dem Schulhof oder in einer Toreinfahrt:

„Wenige Jahre später, mit sieben oder acht, ging ich dann  regelmäßig mit den Älteren mit. Anfangs ließen sie mich noch nicht mitspielen, aber immerhin durfte ich dabeisitzen und zuschauen. Ich hoffte immer, dass jemand müde oder sich verletzen würde. (…) Die Erfahrungen, die ich mit den Älteren sammelte, waren eine harte Schule, die mich das Durchsetzen lehrte. (…)

Ich habe allerdings jeden Tag trainiert, alleine. Dieses Training mit mir selbst war mein eigentliches Training.“

Heute dagegen fährt Mutti den Achtjährigen mit dem Auto zum Sportverein, wo ein Trainer auf ihn wartet, der ihm erzählt, wie Fußball geht. Und  die hochbezahlten Profis parken ihren Porsche vor dem Trainingsplatz, um sich anschließend ans Aufwärmen zu machen. Damals lief man zu Fuß zum Sportplatz und radelte zu den Spielen. Dann war man schon aufgewärmt, wenn man ankam.

Klar, auch die Spieler in den 1950er-Jahren hatten gute Trainer – man denke nur an den legendären Sepp Herberger. Aber die konnten darauf bauen, dass ihre Spieler fußballverrückt waren und daher auch selber viel zu ihrer Entwicklung taten. Horst Eckel beispielsweise erzählt, dass er zum Training und zu den Spielen oft ein bis zwei Stunden vorher erschien, um sich allein warmzumachen und die Ballbehandlung zu üben. Da wartete keiner auf den Trainer, damit der ihm sage, er solle sich bewegen.

Heute setzt sich immer mehr die Ansicht durch, man benötige zu Dingen, die man auch selber lernen oder zumindest üben könnte, das Coaching eines Experten. Weil ja nur der wisse, wie es gehe. Selber ausprobieren und dann an Erfolg oder Misserfolg zu lernen gilt als rückständig und kaum erfolgversprechend.

Auch im Tango scheint heute ohne die Unterweisung von Fachleuten nichts mehr zu gehen. Lieber den schönen Reden des Tangolehrers lauschen und bewundern, was er alles vorführt, als sich mal ein paar Stunden allein oder im Paar plagen. Selber die Musik dazu aussuchen? Aber nein – auch dafür haben wir ja Fachleute, die wissen, was gut für uns ist... (Abgesehen davon, dass zum kursmäßigen Erlernen des Tango die Musik offenbar nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt!)

Was man dabei natürlich völlig übersieht: Mindestens in der Hälfte der Zeit, in der Tango getanzt wird, gab es keine kursmäßigen Schulungen. Man lernte das Tanzen ungefähr so wie Horst Eckel den Fußball: Den Älteren zuschauen, irgendwann selber mit üben dürfen – und dann fast jede Nacht auf den Milongas – jahrzehntelang.

Wenn man dann mit dem Coach oder Tanzlehrer doch nicht recht weiterkommt, wechselt man die eben aus. Im Fußball ist es ja schon fast ein Ritual: Spielt die Mannschaft schlecht, fliegt der Trainer raus.

Hat die Mannschaft hinterher mit einem neuen Trainer mehr Erfolg? Eine statistische Untersuchung von 150 Trainerwechseln in der Bundesliga ergab: nein. Im Schnitt spielen die Mannschaften nach der Umbesetzung des Chefpostens genauso mehr oder weniger erfolgreich weiter.      

https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/fussball-statistik-trainerwechsel-bringen-nichts-a-754907.html

Wieso man dann trotzdem den Trainer feuert? Weil die Fans glauben, dass es was hilft. Und weil man einen Sündenbock braucht. Wahrscheinlich wäre es erfolgversprechender, den Spielern im Trainingslager die Smartphones wegzunehmen. Aber das traut sich kein Vereinspräsidium.

Hilft es beim Tango etwas, wenn man die Lehrkraft wechselt? Obwohl es dazu noch keine Statistiken gibt (und tänzerische Fähigkeiten auch nicht so leicht messbar sind wie Tore), sage ich aus langjähriger Erfahrung: nein. Die Tanzenden, welche von einem Workshop zum anderen ziehen, scheitern an ihrem Irrglauben, es liege am Trainer.

Auch wenn ich dafür schon viel gescholten wurde: Ich meine, das „Expertenunwesen“ schadet dem Tango ebenso wie dem Fußball. Fortschritte sehe ich vor allem bei Paaren, die sich selber bemühen anstatt von Kurs zu Kurs zu torkeln.

Dann hoffen wir mal, dass es unsere Fußballjungs am Dienstag gegen England besser machen. Bei Aufnahmen vom Training sehe ich meist, dass die Spieler einen Kreis bilden, in dessen Mitte Jogi Löw Ansprachen hält. Das ängstigt mich.

Auch Günter Netzer durfte von 1998 bis 2010 in der ARD den Experten geben und redete da oft ziemlich gescheit daher. Glücklicherweise hat man ihm als Widerpart den Journalisten Gerhard Delling beigegeben, der allzu weise Sprüche herrlich kabarettistisch konterte.

Mein Lieblingsdialog: Als Netzer sich mal wieder als Fachmann gerierte, meinte Delling „Sie sind der Experte… mit der Betonung auf ‚Ex‘“.


https://www.youtube.com/watch?v=iDMgV-L2lvs

Kommentare

  1. Ich bin durchaus Deiner meinung, was die sogenannten Experten angeht, und natürlich bringen die besten Lehrer nichts, wenn man nicht selber übt. Aber ein wenig muss ich trotzdem widersprechen. Ein (guter!) Lehrer macht durchaus Sinn, denn der zeigt nicht nur Figuren, sondern vermittelt auch Hintergrundwissen, das hilfreich ist und vor Allem korrigiert er Fehler und Fehlhaltungen. Ich war sehr dankbar, als (nach 8 Jahren Tanz) endlich mal ein Lehrer mein Hohlkreuz bemerkte und korrigierte.....endlich keine Knieprobleme mehr. Ab einem gewissen Level macht es auch durchaus Sinn, mal zu anderen Lehrern zu gehen. Nur so kann man einen eigenen Tanzstil entwickeln, andernfalls wird man nur zu einer Kopie des einzigen Lehrers.
    Das Problem ist nur, dass man als Anfänger oder Laie nicht so schnell merkt, wer ein guter Lehrer ist, das kommt mit der Erfahrung...die ich eben nur machen kann, wenn ich verschiedene Lehrer ausprobiere.
    Meiner Meinung nach ist der Unterschied zwischen einem sogenannten Experten und einem guten Lehrer folgender: Der "Experte" will zeigen, wie toll er selber doch ist, der gute Lehrer will, dass seine Schüler etwas lernen und toll aussehen, wenn sie tanzen. Ein guter Lehrer empfielt seine Schülern auch, mal zu anderen Lehrern zu gehen.
    Liebe Grüße
    Carmen

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Carmen,

      klar können gute Lehrer oder Trainer nützlich sein. Aber nur, wenn die Schüler wirklich Eigeninitiatve entfalten. Davon sehe ich im Tango wenig. Auch das Überangebot von Unterricht führt zu dem Bewusstsein, es liege halt in der Verantwortung des Lehrers, dass man Tango erlernt.

      Wie kann es zum Beispiel sein, dass Ausbilder oder Therapeuten ein Hohlkreuz acht Jahre nicht bemerken - oder dass es ihnen egal ist?

      Wenn Schüler in künstlerischen Fächern in erster Linie durch eigene Aktivität etwas erreichen wollten, würden sie ganz schnell merken, ob der Ausbilder sie auf diesem Weg unterstützt oder behindert. Wer sich passiv verhält, kriegt das natürlich nicht mit.

      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

      Löschen
  2. "Wie kann es zum Beispiel sein, dass Ausbilder oder Therapeuten ein Hohlkreuz acht Jahre nicht bemerken - oder dass es ihnen egal ist?"
    Tja, dazu müsste man natürlich das Wissen haben, dass ein Hohlkreuz eine Fehlhaltung ist. Schüler sagen ja gerne "Ich hab halt ein Hohlkreuz, da kann man nichts machen"...das stimmt aber in den meisten Fällen so nicht, meistens ist es eben eine Fehlhaltung, gegen die man sehr wohl etwas machen kann. Ich hatte aber auch schon mal eine WS-Lehrerin, die meinte, man sollte bewusst ins Hohlkreuz gehen, sonst ließe sich eine bestimmte Bewegung nicht machen. Diesen WS habe ich dann verlassen.
    Da wären wir dann wieder beim Thema "guter Lehrer". Es reicht eben nicht, Nativ zu sein, oder von irgendeinem Maestro ein paar Figuren zu übernehmen.
    Viele "Tänzer" haben aber auch gar nicht den Ehrgeiz, wirklich etwas zu lernen, die wollen einfach nur ein paar Figuren, damit sie halbwegs unfallfrei durch die Ronda kommen.
    Ich war ziemlich überrascht, als meine Lehrer glaubten, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass sie am Anfang ein Warm-Up machen. Das spricht ja ziemlich dafür, welche Schüler sie normalerweise haben.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Dem kann ich nur zustimmen.

      Ein deutliches Hohlkreuz sieht man übrigens bei einer Reihe von Tango-Showtänzerinnen. Ich denke mir dann immer: O je, wie viele Jahre machen das ihre Bandscheiben noch mit?

      Löschen
    2. Und ich dachte schon, dass nur ich mir das denke!
      Um so mehr überraschen mich die vielen Tänzerinnen im Hohlkreuz, als ich von meinen Lehrern (ja, ich habe tatsächlich mehrere ausprobiert ;-) ) immer wieder zu hören kriege: "mach den Rücken lang, lass das Becken gerade!". Also am Unterricht kann es eigentlich nicht liegen....eher an der Bereitschaft, Korrekturen anzunehmen. Und an einer verschobenen Auffassung, was gut aussieht. Beim Salsa, wo doch eher junge Mädels ihren Po zeigen müssen, hat es mich nicht so sehr verwundert, aber beim Tango dachte ich eigentlich, dass da eher erwachsene Menschen tanzen. Da hab ich mich wohl getäuscht...

      Löschen
    3. In dieser Hinsicht sicherlich...

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.