Willy Riedl: Ostern in der Taiga


Zu Ostern gibt es einen besonderen Gastbeitrag: Mein Vater Willy Riedl verfasste den Text kurze Zeit nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft. Am 31. Dezember 1949 sah er Frau und Eltern wieder, die nach ihrer Vertreibung aus dem Sudetenland in dem Dörfchen Unterdolling bei Ingolstadt einquartiert waren.

Der Artikel erschien am 8. April 1950 in der Oster-Beilage des Ingolstädter „Donau-Kurier“:


Ostern in der Taiga / Erinnerung eines Heimgekehrten

Grenzenlose Einsamkeit liegt über der Weite des winterlichen Landes. Die Nächte sind lang, und wenn die Sonne tagsüber, weit unten im Süden, ihren kleinen Bogen beschreibt, so vermag sie nur für wenige Stunden den Tag in einen Zustand der Dämmerung zu tauchen. Dann sieht das Auge tiefhängende Wolken und auf endlos scheinenden Schneefeldern einzeln und in Gruppen sibirische Birken und niedriges Buschwerk.

Schwer lastet hier die Natur in ihrer Ur- und Ungestalt auf dem menschlichen Gemüt, und selbst die unendliche Weite zieht sich drohend zusammen und lastet bedrückend auf der Seele…

Wir sind unterwegs nach Weidenruten für die Korbflechterei im Lager. Beim Aufstehen sagte heute Morgen einer: „In der Heimat ist Karsamstag.“ Woher er das wisse, fragte ihn keiner. Totenstille trat ein. Jeder war für Minuten für sich allein, hielt in sein vergangenes Leben, in die Vielzahl seiner Oster-Erinnerungen Rückschau.

Wie anders war alles hier! Während ich unter den anderen dahinging, kam mir das Ewig-Schöne, das Schlichteste und Herzlichste, das je in deutscher Sprache von der Osterzeit gesagt wurde, in den Sinn: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche von des Frühlings holdem, belebenden Blick…“

Aus einer fremden Welt schien mir das zu kommen! Die ersten Vogelstimmen, die ersten Blumen, dieses Neuerwachen der Natur, das sich auf die Menschen überträgt und auch in ihrem Innersten Auferstehung, neuen Glauben und neue Hoffnungen bringt – wo war das jetzt? Hier? Konnte das matte Licht dort unten überhaupt dieselbe Sonne sein, die jetzt in der Heimat mit Wunderkraft allem neues Leben verleiht?

Ich schüttelte den Schnee von den Weidenruten, ehe ich sie Stück um Stück brach…

Plötzlich… weiteten sich meine Augen: Palmkätzchen! Zum Greifen nah! Schöne, zarte, weiche Knöllchen, wie zu Haus! Mir wurde so warm ums Herz, dass ich erst gar nicht wusste, was ich tun sollte. Dann griff ich sacht nach ihnen und streichelte sie, so zärtlich und behutsam, als wären sie aus Schaum gebacken.

Und da, als meine Finger das Samten-Weiche dieser lieblichen Lebensboten spürten, wurde ich zuversichtlich, ja, fast fröhlich, und obwohl mir danach noch Jahre der Gefangenschaft auferlegt waren – so habe ich von diesem Augenblick an nie mehr an meiner endlichen Rückkehr in die Heimat gezweifelt.


Am 8. Mai 1945 befand sich mein Vater gerade einmal 150 Kilometer von seiner Heimatstadt Graslitz (Kraslice) im Sudetenland entfernt. In Zivilkleidung versuchte er sich nach Hause durchzuschlagen. Er gab es aber bald auf: zu gefährlich.

Einmal wurde er von bewaffneten Tschechen gestellt und sollte als „deutscher Besatzer“ erschossen werden. Mit dem Gewehrlauf im Genick sang er die tschechische Nationalhymne – natürlich in der Originalsprache – und wurde freigelassen. Und das, obwohl er in der Schule Tschechisch immer gehasst hatte! Ja, Bildung kann sich lohnen…

In seiner Not schloss er sich einem Kriegsgefangenen-Transport der russischen Armee an. Da wurde man wenigstens bewacht!

Der Umweg führte allerdings über Sibirien… insgesamt über 20000 Kilometer.

In seinen Erinnerungen schrieb Willy Riedl:

„Und der Tag, dieser 8. Mai 1945 mit Kriegsende und Heimkehr, hatte bei mir vier Jahre, sechs Monate und 22 Tage gedauert.“

Die Überlebenschancen meines Vaters dürften damals im Bereich der jetzigen Corona-Todesraten gelegen haben. Zum Glück wurde er 94 Jahre alt.

Vielleicht sollten wir uns solche Geschichten wieder vergegenwärtigen, wenn wir derzeit jammern, dass wir uns nicht mit Freunden treffen, feiern oder tanzen können.

Gut 8 Monate nach dem Erscheinen des Artikels kam ich zur Welt. Hier ein Bild meines Vaters aus dem Jahr 1952. Der blondgelockte Wonneproppen ist übrigens sein Sohn Gerhard:

Ich wünsche meinen Lesern ein frohes und besinnliches Osterfest. Lasst euch nicht unterkriegen!

Kommentare

  1. Ja, nur nicht jammern! (auf unserm Höhen Niveau) Wir können uns glücklich schätzen. Also dankbar sein! Und Geduld üben! Frohe Ostern!

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    1. Liebe Bea,
      danke für die Zustimmung!
      Ich meine auch, dass es uns in Deutschland vergleichsweise sehr gut geht.
      Frohe Ostern und liebe Grüße!

      (Für mitlesende Kritikaster: Die Kommentatorin ist mir persönlich bekannt.)

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