Liebes Tagebuch… 34



Ja, ich weiß, dass ich dieses Thema mindestens schon einmal bearbeitet habe:

Und ich kann verstehen, dass ich für den einen oder anderen Leser einfach zu viel schreibe. Erst kürzlich wurde von einem Kommentator die „oft etwas ermüdende Vorhersehbarkeit bei den wöchentlichen Beiträgen des ein oder anderen Tango-Blogger-Kollegen“ beklagt.

Na gut, ich hätte mir vor dreieinhalb Jahren auch nicht vorstellen können, dass auf meinem Tangoblog einmal über 400 Texte stehen würden. Aber der eine liest halt gerne dicke Thomas Mann-Romane und der andere lieber (wie man zu meiner Kinderzeit sagte) „Tarzan-Heftl“.

Also, wem’s zu viel ist: Bitte spätestens hier das Lesen einstellen!

***

Die Garderoben auf Milongas sind für einen Tangoblogger ein äußerst ertragreiches Biotop. Zumal, wenn beim Heimgehen der seelische Druck bei den Beteiligten sinkt und daher zunächst verdrängte emotionale Erfahrungen plötzlich die Stimmbänder vibrieren lassen. Und wer mich da anspricht, geht die Gefahr ein, zitiert zu werden (natürlich ohne Namensnennung).

So war es auch neulich: Mir war das Anfängerpaar schon vorher aufgefallen, was zu einer Bemerkung führte, die ich vorsichtshalber nur meiner Gattin ins Ohr flüsterte: „Wie will die arme Frau jemals lernen, ihr Gleichgewicht allein zu halten, wenn ihr Partner ständig wie eine alte Matratze über ihr hängt?“ Folglich beschloss ich, die Dame bei passender Gelegenheit einmal aufzufordern. Doch dazu sollte es nicht kommen.

Als ich nach einer Rauchpause wieder Richtung Musik unterwegs war, wechselten die beiden in der Garderobe gerade ihre Schuhe. Vorzeitiges Ende also nach gerade mal der halben Zeit!

Ich überlegte kurz, ob ich einen meiner Lieblingssprüche wagen sollte: „Wer zu früh geht, den bestraft das Tangoleben.“ Doch da kam mir die Dame zuvor: „Das ist ja faszinierend, wie schnell ihr beiden Milonga tanzt!“

Mir fiel auf die Schnelle nichts Originelleres ein als: „Na, wenn man den Bus noch erreichen will, bewegt man sich ja auch ein bisschen rascher.“ (Wer es noch nicht weiß: Diese Tanzform ist das Faible meiner Ehefrau -  bei temperamentvollen Titeln geht sie ab wie Schmidts Katze…)

Dieser Spruch schien die beiden etwas zu irritieren: Klar, was hat schließlich Tanzen mit den Aktionen im richtigen Leben zu tun? Daher setzte ich mit einer normaler klingenden Replik nach: „Und ihr? Nehmt ihr Unterricht bei den Veranstaltern?“ (Ich gebe zu, dass mich die Verantwortlichen für das, was ich vorher gesehen hatte, interessierten.)

Ein bisschen – aber vor allem lernen wir schon lange Standard und Latein.“ „In einer Tanzschule?“ „Ja, im Ehepaartanzkreis.“

Ich gestehe, dass sich mein Unterkiefer selbstständig machte! Das hieß: In etlichen Jahren wohl das ganze Kursprogramm durchlaufen, inklusive des notorischen Medaillengedödels – und dann derartig herumhängen? Haltung, Balance, Körperführung und Musikinterpretation betreffen ja nicht nur den Tango, sondern jeden (Paar)tanz!

„Da sind wir schon ziemlich beschäftigt, nicht nur mit dem Kursabend, es gibt ja auch eine Übungsparty, und da haben wir für den Tango kaum noch Zeit, grade mal ab und zu bei dieser Milonga.“

Kurze Rückrechnung: Wohl seit Jahren einmal pro Woche Kurs, zusätzlich regelmäßig die „Tanzparty am Samstagabend“, ansonsten homöopathische Dosen Tango – Gesamteffekt: tendierend gegen Null...

Nun mischte sich erstmals auch der Ehemann ein: „Auf die Dauer wird es wohl nötig sein, auch im Tango mehr Figuren zu lernen.“ (Oh Scheiße, nein, nicht auch das noch!)

Mit beinahe wiedergewonnener Fassung wagte ich einzuwenden: „Ach, das ist anfangs gar nicht wichtig. Versucht einfach, euch in den Flow der Musik zu begeben, mit einfachen Bewegungen, vor allem Gehschritten. Wenn man dann Stabilität und Balance gewonnen hat, entdeckt man auch selber genug weitere Bewegungsmöglichkeiten.“

Leere Blicke – klar, haben ihnen ihre Tanzlehrer anders erzählt… Ich versuchte einen letzten Ansatz: „Entscheidend ist vor allem, viel tanzen zu gehen.“ Täuschte ich mich, oder kam da ein ziemlich deutlicher Kontrollblick des Gatten? Jedenfalls beeilte sich die Dame, ebenfalls ihren Mann beobachtend, mit dem Statement: „Nun, wir haben ja auch noch andere Verpflichtungen – da sind wir zeitlich ziemlich eingeschränkt.“ (Na klar, der Herr wollte natürlich weder seinen Stammtisch, die Grillparty noch das wöchentliche Treffen mit den Modellbaufreunden opfern…)

Testhalber setzte ich noch einen drauf, da ich sie vorhin nur miteinander auf dem Parkett erlebt hatte: „Und tanzt viel mit anderen – das ist ganz wichtig!“ Das Dementi kam schlagartig und (fast) unisono: Nein, das trauten sie sich noch nicht. Schlagartig traten sie den Rückzug an. Ich brachte in letzter Sekunde noch den Satz unter: „Ihr müsst bedenken: Auch in der Fahrschule sitzt auf dem Beifahrersitz einer, der es kann!“

Das wurde für die beiden sicherlich eine lustige Heimfahrt: Die Debatten, wieviel Zeit man wofür habe, und wer denn rechts vorne im Fahrschulauto sitze, konnte ich mir ausmalen…

Wird unser Gespräch darüber hinaus etwas bewirken? Wohl nicht. Festgemauert in der Erden des deutschen Tanz(schul)unwesens sind die folgenden Axiome:

·         Tanzen besteht aus dem Grundschritt und darauf aufbauenden Figuren.
·         Dies lernt man in Kursen unter der Anleitung fachkundiger Experten.
·         Selbige haben stets recht.
·         Wenn man dennoch auch nach Jahren auf dem Parkett bestenfalls Tanzparodien zustande bringt, liegt es an der eigenen Unzulänglichkeit und keinesfalls an der Tatsache, dass einem die Experten nur Müll beibringen, da sie wohl selber noch nicht kapiert haben, worauf es beim Tanzen wirklich ankommt. Oder sie wissen es zwar besser, behalten es aber für sich Hauptsache, die Knete stimmt...
·         Feste Paare dürfen ausschließlich zu zweit ein solches Hobby betreiben, was logischerweise einschließt, nur miteinander zu tanzen.
·         Nur untreue Ehefrauen gehen alleine zum Tango.

***

Wie gesagt, ich weiß, dass ich all dies schön öfters geschrieben habe. Möglicherweise ist es vergeblich, sich jenem Wahnsinn entgegenzustellen.

Wenn meine Texte aber auch nur eine einzige Frau dazu bringen, einmal über diese Zusammenhänge nachzudenken, bin ich dennoch höchst zufrieden – und drohe hiermit schon einmal den nächsten Beitrag zum Thema an!

P.S. Kaum eine Tanzschule (ob Standard oder Tango) veröffentlicht Videos, in welchen ihre Schüler beim freien Tanzen zu besichtigen sind (man wird wissen, warum…). Hier ein zwar gestelltes, aber gerade deshalb umso grausigeres Beispiel:


Kommentare

  1. Robert Wachinger4. April 2017 um 09:11

    Hi Gerhard, mit wem sollen die Frauen tanzen lernen, wenn nicht mit den "untreuen" Männern, die alleine zum Tango gehen?
    Das Figurenproblem gibts aber doch bei allen Tänzen: der Mann (der führt) muss auf Musik und Umgebung mit Bewegungsvorschlägen aufwarten können und die Frau (die "folgt") muss diese Vorschläge annehmen und umsetzen können. Da ist es gut (insbesondere für den Mann) wenn sein Repertoire nicht allzu beschränkt ist. Das Problem hier ist doch nur das "Tanzschuldilemma", eine "feste Figur" immer auch bis zum bitteren Ende durchquälen zu müssen. Oder? Nebenbei: ich glaube, dass man, um deine Ansichten akzeptieren zu können, selber schon eine gewisse "Tanzreife" haben muss. Für Anfänger sind feste Regeln gut und sinnvoll.
    Dein "Fahrschulgleichnis" wär übrigens bei vielen Themen sinnvoll (auch da, wos gesellschaftlich nicht akzeptiert ist ...)

    Das Tanzschul-Werbe-Video ist ja furchtbar. Wo treibst du sowas nur immer auf?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Lieber Robert,

      ich konnte es wirklich kaum glauben: Wenn man bei YouTube nach „Tanzschul-Übungsabend“, „Tanzparty“ etc. sucht, gibt es fast kein Material, welches Schüler beim freien Tanzen zeigt – und das wäre doch das beste Kriterium, um die Qualität des Unterrichts beurteilen zu können. Bei Tangoschulen ist es kaum anders: Fast immer werden nur die Lehrer gezeigt, die eine „Figur“ vormachen.

      Man ist sich also wohl durchaus des Elends, das man da produziert, bewusst!

      Des Elends zweiter Teil: „Mit wem sollen die Frauen tanzen lernen?“ Natürlich mit ihren Gatten, auch wenn’s die ebenso wenig können und eigentlich gar keine Lust haben… Eine unausrottbare Illusion!

      Mit den „Figuren“ hast natürlich recht. Sicherlich braucht gerade der „Führende“ etliche Bewegungsoptionen. Die Frage ist halt, wie man die am besten lernt. Nach fünf Jahrzehnten Tanz sage ich inzwischen: Am besten im 1:1-Kontakt – ob man nun privat miteinander übt bzw. auf einer Practica oder Einzelstunden nimmt. Ein Anfänger muss spüren, wie sich etwas gut getanzt anfühlt. Volllabern bringt genau nichts, Vorzeigen nur wenig.

      Hinsichtlich der „festen Regeln“ bin ich sehr skeptisch. Die sind ja genau die Basis des momentanen Tanzunterrichts und führen zu Katastrophen wie auf dem Video. So erreicht man die „Tanzreife“ nie.

      Beste Grüße und danke für Deinen Kommentar!
      Gerhard

      Löschen
    2. Robert Wachinger4. April 2017 um 12:05

      Hi Gerhard,

      Die Problematik um die "Wichtigkeit" von Figuren ist ja ein "Dauerbrenner".

      Ich habs mal einem Bekannten sinngemäss so erklärt: Damit es der Frau gefällt musst du musikalisch tanzen. Figuren brauchst du nur, damits dir selber gefällt (im Wesentlichen um dem dummen Gefühl "ich kann gar nichts und mach immer nur das Gleiche, das ist langweilig" zu entgehen. ;-) )

      Das andere ist (meine Meinung): Regeln sind gut und wichtig genauso lange, bis man weiss was man tut, wenn man die Regeln durchbricht.

      Ich weiss nicht, ob das ein typisch deutsches Problem ist, aber irgendwie gibts auf der einen Seite die Haltung, dass die Regeln wichtig sind und exakt einzuhalten sind, selbst wenn man schon über die Regeln hinausgewachsen ist. Z.b. beim "Tradi-Tango" (das weisst selber ..), aber z.B. auch im Strassenverkehr, wo man z.B. eine Strafe zahlen muss, wenn man nachts über ne rote Ampel fährt, auch wenn man absolut alleine auf der Strasse ist (bis auf die Polizei, die im Dunkeln lauert), nur weil man so "böse" war, eine Regel (absolut folgenlos für alle anderen Verkehrsteilnehmer!) zu übertreten.

      Und dann gibts die anderen Gebiete, wo man glaubt, dass das geführte Lernen (anhand von Regeln) doch nur sinnlos und nutzloser Balast wäre. Letzteres sehe ich z.B. in der Schule, wo schon Grundschüler kaum dass sie die Buchstaben gelernt haben, schon "nach Gefühl" schreiben sollen (und die Rechtschreibung erst später kommt), wo Üben und Erarbeiten von Grundwissen vernachlässigt werden, und man glaubt dass nur "Kompetenzen" wichtig sind. Oder auch wenn jemand beim Lernen eines Instruments glaubt, dass er lange Soli improvisieren kann, sobald er ein paar Töne aus der Tonleiter kennt (in der Falle war ich ... ;-) )

      Es scheint recht schwierig sein, den Übergang zwischen diesen beiden Zuständen zu schaffen.
      Die einen bleiben "ewig" im "Regeln gehorsam beachten"-Zustand und die anderen wollen zu früh schon in den "Regeln sind nutzlos"-Zustand wechseln.
      Das in die richtigen Bahnen zu lenken ist aber auch für (Tanz-)Lehrer oder Eltern schwierig ...

      Ach ja zum Elend: der dritte Teil "Mit wem sollen die Männer denn tanzen lernen?" wird mMn. leider viel zu wenig beachtet. Die müssen halt selber schauen wie sie zurecht kommen, nicht wahr? Dass dann viele Männer den "Notausgang" wählen, also kund tun "Tanzen mag ich nicht, das ist öde, tu ich nie mehr wieder", ist doch nur allzu verständlich (für mich jedenfalls). Grade wenn dann auch noch die eigene Frau dazukommt und ihn belehren will, was er alles falsch macht(!), obwohl sie selber vielleicht nur nen Tick besser tanzt als er.
      Als Anfängermann hast es auch noch besonders schwer: einerseits musst du riseige Hürden überwinden um trotz deiner Ängste, Bedenken und fehlendem Vertrauen in die eigenen Tanzkünste selber aufzufordern, andererseits gibts dann auch noch Tänzerinnen, die sich mit Anfängern nur ungern abgeben ...

      (Ich könnt jetzt noch was zu meinem eigenen Tanzwerdegang erzählen, aber das wär mir zu privat für hier in der Öffentlichkeit)

      Ciao, Robert

      Löschen
    3. Lieber Robert,

      ich kenne genügend gute Tänzerinnen, die sich freuen, einem Anfänger helfen zu dürfen – noch mehr, wenn er sich wirklich bemüht und nett ist. Mein genereller Vorschlag ist der gleiche wie bei beim anderen Geschlecht: mit einer erfahrenen Tanguera üben – notfalls halt gegen Bezahlung als Privatstunde.

      Ich kann Deine Argumente bezüglich „Regeln“ schon verstehen. Dennoch: Es gibt zwar viele Bereiche, da sind Gesetze absolut erforderlich (Straßenverkehr, Strafrecht, Steuern etc.). Und in der Schule geht es (auch) um das Erreichen einer Qualifikation für das spätere Berufsleben und andere „ernsthafte“ Fähigkeiten. Und wenn einer Berufstänzer werden will, gilt Ähnliches.

      Aber für ein Freizeitvergnügen? Wollen wir jetzt auch noch Gesetzmäßigkeiten fürs Küssen (oder Nase bohren) aufstellen?

      Sicher gibt es für den Paartanz Regeln, die sinnvoll sind: Balance, Belastung, Achse, Muskelspannung, Umarmung etc. Die lernt man aber nicht durch dreimal Abschreiben, sondern durch das Erspüren. Und die Grundbewegungen auch.

      Was Tanzschüler aber überhaupt nicht brauchen, ist gerade das, was man ihnen gemeinhin beibringt: Abspulen von Schrittkombinationen, die Mär vom Führen und Folgen – und neuerdings noch den ganzen Tanzspur- und Cabeceo-Müll.

      Gruß
      Gerhard

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.