Tango halb und halb



Zur Rechten sieht man wie zur Linken
einen halben Tango heruntersinken“
(frei nach Wilhelm Uhland:
„Der wackere Schwabe“)


„Tanzt auf zwei Flächen zu 100% traditionell und auf der anderen zu 100% Neo/Non“

Dies war das Motto einer Milonga (oder waren es zwei?), die wir jüngst besuchten. Ergab sich daraus ein zweihundertprozentiger Genuss? Nun, für mich nicht – dafür aber die glasklare Einsicht in das Elend, in dem der Tango hierzulande steckt!

Schon die räumliche Trennung erinnerte mich an gewisse Partys, bei denen der Gastgeber einfach zu viel Platz lässt: In kurzer Zeit haben sich dann in Küche, Wohnzimmer, Garten und am Grillplatz vor der Garage einzelne Grüppchen gebildet, die den ganzen Abend nicht mehr zusammenfinden. In solchen Fällen irre ich meist von einer Mikropopulation zur anderen und gebe alsbald auf.

In der unrealistischen Erwartung, die Mehrzahl der Gäste würde dem traditionellen Tango frönen wollen, hatte man den größeren Tanzraum dieser Gruppierung vorbehalten: Dort herrschte den Abend über die heimelige Atmosphäre eines Sektionssaals mit einer überschaubaren Zahl von Leichen. Bei den Neos hingegen wurde es ziemlich eng. Ein spontaner Tausch der Örtlichkeiten hätte offenbar die logistische Kapazität der Veranstalter überschritten…

Apropos: Die beiden DJs waren tatsächlich anwesend, jedoch sah man sie selten an den autistisch vor sich hin rechnenden Laptops, die weitestgehend eine vorprogrammierte Folge wiedergaben. Wo war das Problem? An der Bar war eh Selbstbedienung angesagt, und zum kleinen Rest an Service (insbesondere dem Kassieren des Eintritts) turnten den ganzen Abend zwei offenbar dem Improvisationstheater verfallene, leicht verkleidete Mägdelein umher, welche sich selber deutlich wichtiger nahmen als die Gäste!

Zu allem Überdruss war noch eine „Silent Milonga“ angekündigt: "Ein Abend ohne Worte - eine besondere Stimmung - außergewöhnliche Musik. Wir tanzen Tango auf feine, besinnliche Musik und verzichten auf Gespräche.“ Nun, zur Hälfte stimmte dieser Einladungssatz ja: Die Gäste hielten brav die Klappe. Zur Musik allerdings fällt mir außer „gewöhnlich“ nur ein: Sie war sicherlich nicht schlecht ausgesucht, aber halt aus den beiden Bereichen, deren Addition deutsche Veranstalter für die Summe des Tangos halten: EdO plus Partygedudel. Ich möchte ja dem fälschlicherweise "Neotango" genannten Ragout aus Popmusik, etwas Folklore und Chanson die musikalische Qualität nicht absprechen – aber mit Tango hat das nichts zu tun. Die Tangomusiker von 1960 bis 2015 sind offenbar verboten – sie durften und dürfen allenfalls Konzerte geben, mehr nicht.

Insofern ist daher das anfängliche Zitat nur teilweise wahr: Maximal fällt in dieser Schlacht nämlich ein halber Tango vom Gaul. Die andere Hälfte aber… ist getürkt.

Zwischen den beiden Welten befanden sich der Barbereich sowie die Toiletten – eine Feng Shui-mäßig interessante Anordnung: Wem somit der Tango nuevo Piazzollas oder die Ensembles von Sexteto Mayor bis Sexteto Milonguero fehlten, konnte sich immerhin mit seinem I-Pod aufs Klo zurückziehen oder sich in seiner Verzweiflung einen ansaufen. Besser jedenfalls, als von einem Tanzraum in den anderen zu rennen und sich so immer wieder dem Wechsel von Quittengelee auf Salzhering zu übergeben... Übrigens, und dies erlebte ich als deutliches Warnsignal: Weitgehend sah ich mich genötigt, im traditionellen Sektor zu tanzen!

Interessant immerhin eine Beobachtung, die ich nicht zum ersten Mal machte: Wer besser tanzen kann, versucht sich eher an den moderneren Rhythmen. So ergab sich die absurde Situation, dass im einen Sektor Tangomusik mit unzureichenden Mitteln interpretiert wurde, und 15 Meter daneben schöne Tangobewegungen darunter litten, dass sie nicht zu Tango ausgeführt werden konnten.

Dies soll keine vernichtende Kritik an den sehr sympathischen Veranstaltern werden, und ich fand es toll, dass der eine DJ mir kurz vor dem Gehen noch ein Stück von Anja Stöhr in eine klassische Milonga-Tanda schummelte. Aber insgesamt, liebe Leute, wird das so nix! Es darf doch nicht wahr sein, dass man heute die Tangomenschen wie die verfeindeten Fanlager im Fußballstadion räumlich isolieren muss! Ich bin auch bei diesem Drama strikt für die Einheit von Zeit, Ort und Handlung.

Und nachdem ich nun zum zweiten Mal eine „stille Milonga“ besuchte, bin ich mir ebenso sicher: Ein drittes Mal wird es nicht geben. Letztlich ist dies nur ein weiterer „Código“, welchen man den Gästen aufdrückt. Da fielen einem Satiriker natürlich noch viele Modalitäten ein: Wie wäre es einmal mit einer „Milonga extra dry“ (also ohne Trinkbares), einem „Tango Ramadan“ (mit vorhergehendem dreitägigem Pflichtfasten) oder dem „Tantra-Tango“ (nur echt mit Meditationsübungen als Cortina)? Geht es beim Tango nur noch in Extremen? Traditionsgeschrammel oder Partygedudel? Lautes Gegackere und Gekreische oder Schweigegelübde? Wie wäre es einmal wieder mit der goldenen Mitte: Abwechslungsreiche Musik und Gäste, die sich benehmen können? Oder ist das zu langweilig?

Was ich aber als Autor gigantisch finde: Da glaubt man, in vielen Tangojahren schon alles erlebt zu haben – und dies stellt sich immer wieder als grober Irrtum heraus! Als ich eine Dame aufforderte, streckte sie mir ihre offene Handfläche entgegen – aber nicht etwa, auf dass ich sie zur Tanzfläche geleite! Nein – festhalten, jetzt kommt‘s: Sie hatte auf dem eiskalten Händchen (wohl wegen des Trappisten-Zwangs) mit Kugelschreiber notiert, wieso sie mein Angebot ausschlagen wollte oder musste. Die Tragik dabei: Meine Brille lag im Auto, und ich konnte den Text somit nicht lesen! Damit erfüllte sich auf wundersame Weise ein weiterer Satz des Einladungstextes: „Dafür werden andere Sinne geschärft und wir achten mehr auf die spürbare innerliche Präsenz der Anwesenden." Ja, hätte ich dies mal rechtzeitig auf den optischen Sinn und meine verquere Dioptrienzahl bezogen!

Betroffen vor dem Weichschleier-Vorhang stehend und mit dieser offenen Frage, bleibt mir nach jenem Besuch im Noch-Schwäbischen nur des Meisters Uhlands Erkenntnis:

„Daselbst erhub sich große Not,
viel Steine gab's und wenig Brot

P.S. Und ich werde nun endgültig bei Peter Ripota einen Handlesekurs buchen…



Kommentare

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    1. Da der obige Kommentar anonym erfolgte, habe ich ihn gelöscht.

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  2. Das mit dem "Handlesen" ist nicht so wörtlich gemeint ... Im übrigen haben wir das auch schon erlebt, in München. Absolut grässlich: Der Neo-Raum viel zu klein, keine Leute dort. Der "Klassik"-Raum viel zu groß, keine Stimmung. Gut, dass es auch kleine Milongas gibt, auch wenn sie in kleinen Räumen stattfinden ...

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    1. Ja, manchmal zeigt sich halt in der Beschränkung der Meister!

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