Hüpfen oder schlurfen



Warum nur komme ich auf manchen Milongas so überhaupt nicht in Stimmung? In letzter Zeit plagt mich öfters dieses Gefühl, obwohl mein Großhirn von den objektiven Aspekten her eigentlich sein Okay gibt: nette Menschen, ein freundlicher Gastgeber, gutes Parkett, halbwegs Platz zum Tanzen und die Musik nicht ausschließlich langweilig und fad. Dennoch muss ich die Veranstaltung relativ früh verlassen, da die Differenz zwischen dem fröhlichen Treiben rundherum und der Kälte in meinem Herzen irgendwann unerträglich wird. Ich fürchte, man sieht es mir an, und ich möchte ja dem Rest auch nicht den Spaß verderben – dann lieber raus und weg!

Ein Grund könnte sein: Was da – durchaus lustig und sympathisch – um mich herum tobt, ist für mein Empfinden weder Fisch noch Fleisch. Da gibt es Events, die laut Veranstaltungskalender „mit traditionellen Tangos, Valses und Milongas“ ausgestattet sind, auf Facebook hingegen mit „wunderschöner Musik neo & traditionell“ werben – und diese Widersprüche prangen monatelang im Internet, obwohl die Veranstalter sich dort ständig tummeln und geradezu spamartig Werbung machen. Wirklich nur ein Versehen?

Ich halte es eher für eine völlige Kapitulation vor dem Mainstream – so nach dem Motto: halt mal sehen, wer (oder besser: was) kommt. Sind (ausnahmsweise) einmal ein paar Gäste da, die wirklich gut tanzen, werden aus dem traditionellen Segment, manchmal sogar der Moderne, wirklich interessante und tänzerisch anspruchsvolle Titel aufgelegt – angesichts der heute üblicherweise auftretenden Tangopopulation lautet die Überlegung allerdings meist: Stehen die mehr auf langweilige Traditionsmusik oder Disco-Beats – oder, einfacher gefragt: „Wollen die eher schlurfen oder hüpfen?“ Entsprechend wird dann aufgelegt, und persönlich hoffe ich in solchen Situationen, man präferiert das Erstere – dann wird zumindest Tango gespielt.

Besonders furchtbar wird es nämlich, wenn das Event im Laufe des Abends immer mehr zur „80-er Jahre-Disco“ verkommt und das angejahrte Publikum per ekstatischer Verrenkungen zu wummernder Rhythmik seine dritte Jugend abfeiert. Bewegung mag ja gegen Adipositas und Wechseljahresbeschwerden helfen, aber könnte man zur Therapie nicht weiterhin mit Skistöcken den Waldboden erstechen, anstatt etwas zu persiflieren, was mit dem Tanz aus den Hinterhöfen am Rio de la Plata nun wirklich gar nichts mehr zu tun hat? Meine Antipathie gegen Netzstrümpfe im Tango habe ich ja schon genügend dargetan – Stützstrümpfe allerdings machen das Kraut auch nicht fetter. Und das Ganze dann garniert mit dem üblichen Gedöns und Gekreische, welches sogar eine solche Beschallung noch übertönt…

Ich fürchte, die deutsche Szene tanzt immer mehr um ein goldenes Kalb, welches sich nur noch zur Tarnung Tango nennt. Auf dem Parkett gibt es – je nach Ausrichtung der Veranstaltung – entweder uniformes Herumgeschiebe oder „Spaßtanz“ à la „50 plus-Party“ zu sehen. Es fehlen einfach die Vorbilder für sensitives, filigranes und raffiniertes Tanzen – und diese können auch nicht dadurch ersetzt werden, dass man von Zeit zu Zeit ein argentinisches Lehrerpaar durchs Dorf treibt. Ein 90 Minuten-„Workshop“ am Samstagnachmittag bringt da gar nichts, wenn die täglich gelebte Praxis fehlt. Auf den Tanzböden sieht man zunehmend die Musik ignorierende Tangoparodien, gegen welche die Szene heftig protestieren würde, wenn sie schauspielerisch gestellt wären und nicht real.

Auch das allgemeine Wissen um den Tango nähert sich allmählich dem Nullpunkt: Wem sagen Namen wie D’Arienzo, Demare, Troilo oder Manzi noch etwas? Gelegentlich werden ja den Lesern oder Besuchern Gewinnspiele angeboten. Während es da früher beispielsweise um das Erkennen bestimmter Orchester oder Tangotitel ging, darf man heute tippen, welche Füße zu welchem Tangolehrer gehören oder persönliche Lebensdaten des DJ erraten. Und man kann bekanntlich auch Milongas ausrichten, ohne zu wissen, was „Tango nuevo“ bedeutet. Die Förderschule lässt grüßen…

Und die Veranstalter? Selbst bei profundem persönlichem Wissenshintergrund und großem tänzerischem Können ignorieren sie tapfer die Entwicklung zum Gaga-Tango. Nach außen hin finden sie alles „gaaanz, gaaanz toll“ – könnte ja sonst Kundschaft kosten…Warum trauen sich bei uns immer weniger Kritiker, Mist auch Mist zu nennen? ("Leuchtende Beispiele" wie Dieter Bohlen vermögen mich da nicht zu beruhigen...)

Ich glaube, ich muss mich hinfort noch stärker auf die Ausnahmen denn die Regel konzentrieren. Immerhin durfte ich neulich, mitten in der platten Einöde, bei Sonnenuntergang Piazzollas „Balada para un loco“  tanzen  – noch dazu mit jemandem, der das konnte. Das war Gänsehaut pur und nicht – auch wenn dies physiologisch vergleichbar ist – gesträubte Haare.

P.S. Sorry für die Belästigung mit meinen Depressionen – wahrscheinlich ist in Wirklichkeit alles halb so schlimm, und ich kriege nur eine Erkältung…

Kommentare

  1. Könnte es sein, dass wir da auf der gleichen Veranstaltung in einem Ort zwischen Pfaffenhofen und Landshut waren? Wenn ja, dann kann ich mich noch an die Begeisterung deiner Gattin erinnern, als ein feuriger Besucher aus einem südöstlichen EU-Land (berühmt für seine pflanzlichen und menschlichen Paprikaschoten)(das Land, nicht der Besucher) eine Probe seiner vielseitigen Talente zum Besten gab: Er sang, spielte und tanzte, es war eine wahre Freude. Das sah man jedenfalls auf dem Gesicht deiner Gattin. Umgekehrt blühte meine Gattin auf, als ein ziemlich großer und manchmal Musik auflegender Tänzer in leidenschaftlicher Ekstase seine Damen zu Tanzorgien mitriss, letzteres ganz wörtlich gemeint, gemäß dem Motto: "Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." "Mein D., mein D., dazu bin ich zu alt!" Immerhin, die Beleuchtung des Raums ist jetzt viel besser als früher ...

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  2. Lieber Peter,
    ich glaube schon, dass es die selbe Veranstaltung war! Ja, die Puszta-Einlage war zum Sterben schön - vor allem, als die Veranstalterin berichtete, der Herr habe ihr in der ersten Tangostunde schon ein Video eines berühmten Tänzers gezeigt mit der Bemerkung, das wolle er auch lernen... Selbstvertrauen muss man haben!
    Der "Tango brutale" ist mir auch aufgefallen - und dieser Tänzer legt auch gelegentlich Musik auf? Was für welche? Aus Kung-Fu-Filmen?
    Liebe Grüße, Gerhard

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