Gefesselt und mit plattem Busen

 

Selten reagierten die Deutschen so hysterisch auf die Ankündigung einer staatlich verordneten Pflicht… Ich meine allerdings nicht die allgemeine Impfpflicht gegen Corona (die wird ja derzeit erst diskutiert), sondern die Anschnallpflicht im Auto.

Im Jahr 1975 spaltete die Frage: „Oben mit oder ohne?“ die westdeutsche Gesellschaft. Wie der SPIEGEL schreibt, fürchteten damals Männer um ihre Freiheit und Frauen um ihren Busen. Die beschlossene Einführung der Gurtpflicht zum 1.1.1976 spaltete die Gesellschaft wie kaum ein Thema zuvor.

Damals wie heute war die Mehrheit vernünftig – zumindest in der Theorie: In Umfragen hielten 90 Prozent das Rückhaltesystem für durchaus sinnvoll – selbst mit einer Pflicht zum Einbau hatten zwei Drittel kein Problem – aber selber anschnallen? Obwohl 1972 schon in 36 Prozent der Fahrzeuge ein Gurtsystem vorhanden war, nützten es im Stadtverkehr nur 5 Prozent, auf Autobahnen immerhin 15 von hundert. Übrigens war hier die DDR schneller: Dort war der Einbau von Gurten schon 1970 vorgeschrieben, in der BRD erst 1974.

Wegen der befürchteten Proteste war das Anlegen des Sicherheitsgurts ab 1976 zwar Pflicht, jedoch nicht mit einem Bußgeld bewehrt. Auf den Rücksitzen wurden Beckengurte erst ab 1979 obligatorisch – Dreipunktgurte auf allen Sitzen sind es sogar erst seit 2004.

Das Thema wurde hoch emotional behandelt. In einer Studie des Bundesverkehrsministeriums fiel auf, dass manche Probanden schlicht die Antworten verweigerten, andere die Interviewer sogar verbal angriffen. Die Psychologen registrierten „starke latente Spannungen, unausgetragene Konflikte, affektive Verfestigungen und Bereitschaft zu kämpferischen Auseinandersetzungen".  Viele assoziierten den Gurt eher mit einem Unfall als mit der Sicherheit bei diesem. Zudem neigen wir bei Gefahr zur Flucht und nicht dazu, uns irgendwo festzuhängen.

Autofahren galt als Symbol für Freiheit, Spaß und Abenteuer. Gurtträger galten als pedantische, übervorsichtige Spießer, Gurtmuffel dagegen wurden als egoistisch und verantwortungslos gebrandmarkt – von der jeweils anderen Seite. Manche verzichteten auf den Gurt, um nicht als kleinkariert und spießig zu gelten.  

So wie heute die Hobby-Virologen dominieren, gab es wohl damals besonders viele Amateur-Ingenieure. Man fühlte sich „gefesselt ans Auto“ (so 1975 eine Titelgeschichte des SPIEGEL): Im Fall eines Wagenbrandes oder des Untergehens im Wasser könne man sich nicht rechtzeitig aus seiner Kalesche befreien. Da halfen auch die Aussagen wirklicher Experten nicht, dass eh die wenigsten Unfallopfer aus eigener Kraft einem brennenden Wagen entkämen und die Zahl der Todesfälle durch Absaufen so selten waren, dass sie nicht einmal statistisch erfasst wurden. Aber wer glaubt schon „Mainstream-Fachleuten“?

Das Buch „Gurt, der tötet“ des Autors Jérome Spycket wurde ein Bestseller. Heute kennt das nicht mal mehr „Amazon“.

Auch damals bemühte man die Justiz: Gehörte es nicht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, notfalls auch mit Karacho durch die Fronscheibe zu brettern? Durfte der Staat solches Verhalten durch Verbote beschränken? Oder war es Versicherern erlaubt, bei nicht angelegten Gurt Leistungen zu kürzen? Anfangs gab es sogar einige Gerichtsentscheidungen, welche zugunsten nicht Angeschnallter ausfielen. So könne das Rückhaltesystem in seltenen Fällen verhindern, dass der Fahrer zu seinem Schutz reflexartig vom Sitz rutsche. Inzwischen ist die Rechtslage eindeutig.

Statt mit Verboten und Bußgeldern zu drohen, investierte die Regierung Millionen in Aufklärungskampagnen und sogar eine Fernsehshow: „Mit Gurt und ohne Fahne“. Das konnte den harten Kern der Verweigerer jedoch nicht umstimmen. Erst die Geldstrafe von 40 DM, eingeführt 1984, ließ die Anschnallquote stark zunehmen. Heute liegt sie bei 95 Prozent.

1971 gab es in Westdeutschland ca. 21300 Verkehrstote,  2020 in Gesamtdeutschland lediglich ca. 2700, also 13 Prozent. Dafür verantwortlich sind vor allem die sicherheitstechnischen Verbesserungen (z.B. auch ABS und Airbag), die man in die Fahrzeuge eingebaut hat. Nach damaligen Studien hätte man fast 2000 Tote im Jahr durch den Gurt verhindert können – von einer Unzahl Verletzter ganz zu schweigen. Hätte man das Bußgeld also 8 Jahre früher eingeführt, wäre bis zu 16000 Menschen ein Tod auf der Straße erspart geblieben.

Man kann es natürlich auch auf Querdenker-Art berechnen: Aktuell sind fast alle Unfallopfer angeschnallt. Was bringt also der Gurt? Und wahrscheinlich wird die viel geringere Sterberate heute durch vorsichtigeres Fahren verursacht (oder durch ein besseres Immunsystem). Welche Gefahren ergeben sich für weibliche Personen mit Brustimplantaten? Und erst die armen Kleinen: gefesselt in einen Kindersitz wie unmenschlich!  

Quellen: https://www.spiegel.de/geschichte/einfuehrung-der-gurtpflicht-a-946925.html

https://www.auto-mattern.de/die-geschichte-der-gurtpflicht/

https://de.wikipedia.org/wiki/Sicherheitsgurt

Die Parallele zum jetzigen Gedöns ums Masketragen oder die Corona-Impfpflicht ist deutlich – mit dem Unterschied, dass man ja niemanden gefährdet als sich selber, wenn man unangeschnallt fährt. Dennoch wurde damals die Gurtpflicht eingeführt. Die Begründung, man wolle damit immense volkswirtschaftliche Schäden verhindern, schien zu reichen. Heute hätte man für eine Impfpflicht weit bessere Argumente.

Erinnern wir uns noch an die heftigen Kontroversen bei der Volkszählung oder der fünfstelligen Postleitzahl?

Noch schlimmer: Ab 1953 gab es in der BRD keinerlei Geschwindigkeitsbegrenzungen mehr. Als man 1957 Tempo 50 in geschlossenen Ortschaften  einführte, war das Geschrei ebenfalls groß. Das gesamte Verkehrssystem könne zusammenbrechen. Der Prokurist von Porsche warnte, die technische Entwicklung werde gehemmt, was die Verkaufszahlen drücke. „Soll man das Schwimmen verbieten, weil dabei jährlich Hunderte von Menschen ums Leben kommen?“, fragte der Vizepräsident des ADAC. Dass der Fortschritt der Technik auch Opfer koste, sei die schmerzliche Kehrseite einer notwendigen zivilisatorischen Entwicklung, die man „nicht dramatisieren“ müsse. Tempo 100 auf Landstraßen wurde erst 1972 Gesetz.

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/gurtpflicht-postleitzahlen-und-co-schreck-lass-nach/10918252.html

Man sieht also: Nicht immer hatte es bei uns die Vernunft leicht, sich gegen irreales Gezeter durchzusetzen. Wir sollten uns davon nichtbeeindrucken lassen. Im Endeffekt siegt doch meist die Realität: Sicherheitsgurte begünstigen bei Unfällen einen milderen Verlauf.

Das Ganze nochmal in einigen Bildern:

https://www.youtube.com/watch?v=6LzLGW1EkdM

P.S. Und über die Gurtpflicht wissen Sie doch sicher Bescheid, oder? Ich hätte da mal drei Fragen:

1. Unangeschnallt im Auto zu fahren kostet hierzulande im Regelfall…

* 30 Euro

* 40 Euro

* 50 Euro

2. Erhält man dafür einen Punkt in Flensburg? 

3. Gibt es Ausnahmen von der Gurtpflicht?

* beim Rückwärtsfahren?

* bei Schrittgeschwindigkeit?

* beim Ein- oder Ausparken?

* beim Lieferverkehr im Auslieferungsbezirk (z.B. Post- oder Paketboten)?

* für Busfahrer?

Die Lösungen findet man im Kommentarbereich!

Kommentare

  1. Das Thema ist ein philosophisches Problem: darf/soll/muß man als Staat die Bürger so bevormunden, dass sie sich auch nicht selbst schädigen können/dürfen?

    Wenn man diese Frage bejaht und dann bis zum Extrem weiterverfolgt, dann landet man in einem totalitären System, welches das Leben jedes Menschen bis ins Kleinste reglementiert. Verneint man die Frage, könnte man zu anarchistischen Systemen kommen, wo es keine Solidargemeinschaft (Krankenversicherung, Renten etc) mehr gibt.
    Eine einfache, für alle Fälle gültige Antwort gibt es natürlich nicht.

    Für das "Gurt-Problem" gab es ja auch schon (scherzhaft gemeinte) "Lösungen", die verhindern solten, dass man im Falle eines Unfalls der Solidargemeinschaft auf der Tasche liegt (z.B. Stachel ins Lenkrad einbauen, hätte den Effekt, dass jeder gleich viel vorsichtiger Fahren würde ;-) )

    Beim Thema Corona-Impfung ist mein aktueller Stand des Laien-Halbwissens, dass man damit die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf im Falle einer Erkrankung veringert (Für mich war das genügend Grund, mich impfen zu lassen). Nicht mehr: weder schützt sie vor Ansteckung, noch schützt sie andere davor, dass man sie als Geimpfter anstecken könnte.
    Wenn ich hier richtig liege (!), stellt sich natürlich die Frage, warum so eine Panik vor Ungeimpften geschürt wird (durch Politik, Medien etc), die schädigen sich ja im Wesentlichen nur selber.

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    1. Nein, die schädigen andere Patienten, die derzeit nicht mehr operiert werden können, weil Ungeimpfte zu etwa 80 Prozent die Intensivstationen füllen. Und sorgen dafür, das noch mehr Personal dort aufhört.

      Das mit der „Ansteckung“ ist ein diffiziles Problem, das man nicht mit „ja“ oder „nein“ beantworten kann. Infektionen sind stets dynamische Prozesse, sozusagen ein „Wettrennen“ zwischen Erreger und Immunsystem. Und da sind Geimpfte in der Regel deutlich schneller beim Gehalt und vor allem der Produktion von Antikörpern. Klar kann man sagen: Infektion heißt Erregernachweis. Aber wie viele Viren sind da vorhanden und für wie lange?

      Wenn eine Impfung schwere Verläufe viel seltener macht, muss sie auch im Vorfeld die Dynamik beeinflussen. Daher: Geimpfte stecken sich seltener an und geben auch das Virus nicht in den Mengen frei wie Ungeimpfte. Wie sich das quantitativ verhält, wird derzeit in Studien untersucht. Aber um die wirklich zu kapieren, sollte man Virologe sein.

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  2. Lösungen der Quizfragen:
    1. 30 Euro

    2. Nein. Es sei denn, man lässt Kinder ungesichert mitfahren. Dann zahlt man 60 Euro (ein Kind) oder 70 Euro (mehrere Kinder) und kriegt einen Punkt.

    3. Ausnahmen regelt der § 21 a der Straßenverkehrsordnung. Danach ist man in allen genannten Punkten von der Gurtpflicht befreit (Busfahrer nur, wenn die Beförderung stehender Fahrgäste erlaubt ist).

    Individuelle Ausnahmen (z.B. medizinische Gründe) sind auf Antrag bei der Straßenverkehrsbehörde möglich (§ 46 StVO).

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