Von der Rampensau zum Ronda-Prediger


Der Berliner Tango-Kollege Tom Opitz teilte am 9.11.19 auf seiner Facebook-Seite einen Text, der offenbar von dem Showtänzer und Tangolehrer Aoniken Quiroga stammt.

Mein gut geführtes Archiv zeigte mir: Ich hatte über seine Aktivitäten schon einmal berichtet:
Im Artikel verlinkte ich Vortanz-Videos, in denen Aoniken Quiroga zusammen mit seiner Partnerin Alejandra Mantiñan unter anderem zur  EdO-Milonga „Parque Patricios“ in einem Höllentempo und mit artistischen Höchstleistungen über die Tanzfläche rauscht.



Da seine (trotz der Körperfülle) quirlige Interpretation im Netz auch Missfallen erregte, verteidigte ich ihn mit den Worten:

Die Begriffe ‚Rennen‘, ‚Spaß‘ und gar ‚Rumgealber‘ stehen heute natürlich auf dem Index des ernsthaften Tangofreunds. (…) Das sei eher eine Tangoparodie – so könne man doch nicht tanzen…
Kann man auch kaum noch: Wenn ich mal bei einer Milonga ein ähnlich hohes Tempo anschlagen will, geht das nur bei fast leerer Tanzfläche, ansonsten gleicht das dem Vorhaben, im Porsche an einer Rollator-Pilgergruppe vorbeizukommen…
Ich frage mich schon ernsthaft, ob es nicht eher eine Tanzparodie darstellt, konsequent die perlenden Sechzehntelläufe sowie Punktierungen einer dynamischen Milonga zu überhören und brav im Viertelrhythmus einherzustapfen.“

Sinnigerweise lautete der Titel meines Textes: „Als man sich im Tango noch bewegte“.

Tja, Tempi passati… In seinem jetzigen Text wendet sich Aoniken Quiroga an nichts Geringeres als die ganze Tangowelt (natürlich, wie es sich gehört, auf Spanisch). Zusammenfassend übersetzt sagt er etwa Folgendes:

Wir stünden heute vor der größten Herausforderung in der Geschichte des Tango. Die Códigos seien verloren gegangen, Respekt sei durch Ichbezogenheit ersetzt worden. Die Milonga verkomme zu einer Bühne, wo sich jeder aufspielen wolle, das Wort „Maestro“ für jeden Schrott herhalten müsse.

„Der TANGO muss respektiert, geliebt und bekannt sein, studiert, analysiert werden, und es muss ein für allemal verstanden werden, dass der TANGO EINE POPULÄRE KULTUR ist, und sein edelster Ausdruck, die MILONGA, der Ballsaal, dieser Ort der Geselligkeit, der Gemeinschaft und von festgeschriebenen Werten – und damit das passiert, muss man zu den Wurzeln zurückkehren, in der Milonga zählt nur der SOZIALE Tanz ...“

Es gebe nichts Schöneres, als im Takt und mit Eleganz spazieren zu gehen. Zurück also zu den alten Traditionen – die Verzierungen seien für die Bühne da, nicht die Milonga.

Natürlich gibt es auf der Seite von Tom Opitz die üblichen Kommentare:

„Argentinischer Tango ist nicht nur ein Tanz. Es ist gelebte Kultur. Und es ist diese Kultur, die den Argentinischen Tango so einzigartig faszinierend macht. Nimmt man diese Kultur weg, bleibt ‚Tango‘ übrig.“

Leider überzieht man im Tango die hochheilige „Kultur“ mit einer dicken Schicht rosa Zuckerguss. Wer sich nur ansatzweise mit der Geschichte der Milongas beschäftigt, erfährt von heftigstem männlichen Herumgegockel, von Rivalenkämpfen, die gelegentlich (wohl nicht nur in den Tangotexten) in Messerkämpfen endeten. Und das Frauenbild, das sintemalen herrschte, möchte ich nicht geschenkt haben (und die Tänzerinnen von heute werden erst recht darauf verzichten können).

Aoniken Quiroga hat gutes Geld damit verdient, in seinen Shows die Rampensau zu geben. Wundert es ihn, wenn ihm Tanzende nacheifern? Ja, ich weiß, das ist alles „Bühnentango“… Unser Tanz dürfte weltweit die einzige Disziplin sein, wo Vorbilder dringend davor warnen, sie nachzuahmen. Ich stelle mir das bei Sängern oder Fußballspielern ziemlich putzig vor:

Hat Maria Callas ihren Bewunderern mitgeteilt: Was sie böte, sei „reiner Bühnengesang“ – bitte ja nicht nachmachen? Oder verlautbaren Stars wie Thomas Müller, sie betrieben „reinen Profifußball“ – nicht, dass Jugendspieler auf die verwegene Idee kämen, genialem Körpereinsatz wie beim FC Bayern nachzustreben?

Warum hat Quiroga sich nicht auf braven Tangounterricht zum Erlernen des Ronda-Gehens beschränkt? Vielleicht, weil gerade sein Showtanz die Schüler in Massen in seine Kurse trieb? Und zwar, weil er so tanzt, und nicht obwohl?

Die Predigt, die er nun vom Stapel lässt, hätte er schon vor Jahren veröffentlichen können. Aber sie passt halt heute viel besser zur gewandelten Mentalität der Tangoszene. Derzeit möchte man keine Schritte mehr lernen, und auch die Musikalität hat sich als ein zu schwieriger Lerngegenstand nicht bewährt. Also möchte man nun Kurse in Regelkunde, Aufforderungs-Wissenschaft und Rempelvermeidung. Auch das bringt wieder die Kohle, und hierfür sind solche Texte sicherlich geeignet.

Zudem frage ich mich, was Showtänzer wie er auf den üblichen Milongas wollen. Mein Eindruck von dieser Spezies ist immer wieder: Das „soziale Tanzen“ geht ihnen am Hintern vorbei. Vor ihrer Performance lassen sie sich meist gar nicht sehen – und hinterher sitzen sie am Prominenten-Tisch und tun, was sie auch in ihren Kursen besonders gut können: reden. Von einer aktiven Teilnahme auf dem Parkett keine Spur! Und oft denke ich mir angesichts ihres BMI: Ein wenig Bewegung könnte nicht schaden…

Daher nehme ich auch folgenden Rat einer Kommentatorin gefasst zur Kenntnis:          

„Jeder kann seinen Tango so leben, wie er möchte, von links nach rechts schwofen und wieder zurück, wenn er damit glücklich ist, in Badelatschen und Shorts antreten, verschwitzt oder nicht, jeder nach seiner Fasson. Es gibt genügend alternative Tanzszenen, wo er Seinesgleichen findet. Ist auch gut so.“

Nein, ist es nicht. Ich kenne ganz viele Milongas mit gemischter oder moderner Musik, wo niemand in dieser Bekleidung tanzt – und Aoniken Quiroga würde ich das erst recht nicht empfehlen. Gut, verschwitzt bin ich öfters, da ich mich bewege.

Rücksichtslosigkeit erlebe ich dort eher selten. Warum? Nun, die meisten Gäste solcher Veranstaltungen können sehr geschickt auf dem Parkett navigieren. Bei welchem Tangolehrer man solche Fähigkeiten erwirbt? Keine Ahnung – ich fürchte, das sind Autodidakten!

Kommentare

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