Gerhard Riedls garantiert unanonymes Blog zum Tango argentino
Balada para un loco
Ich weiß nicht mehr, wann genau ich die geniale „Ballade
für einen Verrückten“ von Astor
Piazzolla zum ersten Mal hörte – wahrscheinlich schon vor 2005. Inzwischen
habe ich oft dazu getanzt, vorwiegend im Pörnbacher Wohnzimmer oder auf
sonstigen eigenen Veranstaltungen, denn die üblichen DJs ignorieren das Stück
nach wie vor.
Immerhin gewannen Hugo
Mastrolorenzo und Agustina Vignau
mit ihrer Choreografie zu dieser Musik 2016 die Tango-Weltmeisterschaft –
natürlich in der Sparte „Bühnentango“:
Was ich bisher noch nicht wusste: Piazzolla und sein Textautor Horacio
Ferrer präsentierten die Tango-Ballade 1969 in Buenos Aires bei einem
Wettbewerb. Es sang Amelita Baltar:
Ein Teil des Publikums (wohl organisierte Piazzolla-Gegner)
warf mit Münzen und anderen „Anerkennungen“ auf die Sängerin. Die Ballade
belegte den zweiten Platz. Sieger war der Tango „Hasta el último tren“, gesungen von Jorge Sobral:
In derselben Woche erschien „Balada para un loco“ als Schallplatte (zusammen mit „Chiquilín de
Bachín“, ebenfalls von Piazzolla und Ferrer). In kürzester Zeit verkauften sich
200000 Exemplare. Das Siegerlied des
Wettbewerbs kennt heute kaum einer mehr.
Ein surreales Großstadt-Gedicht hatte seinen Triumphzug gestartet –
freilich bis heute mehr in den Konzertsälen dieser Welt denn auf den
Tanzflächen. Als man Horacio Ferrer
30 Jahre später fragte, warum der Titel immer noch in Mode sei, war seine
Antwort: „Weil er ein romantisches Thema
in einer Welt der Geschäftsleute entfaltet“.
Klar, man muss ebenso verrückt sein wie das Stück, wenn man
es tanzen will. Für mich war es stets der Höhepunkt
eines Tangoabends, mich dazu mit einer guten Tänzerin bewegen zu dürfen. In
meinem Tangobuch habe ich viele
dieser Erfahrungen in einer Geschichte
zusammengefasst. Die Handlung: Am Ende einer ziemlich öden Milonga gelingt es
mir, eine begabte Anfängerin aufzufordern. Wie ich das oft genug erlebt habe:
Es gibt Momente, wo man als Paar über sich hinauswächst und „Traumtangos“
gelingen:
„Ich weiß nicht, ob Du dieses Stück kennst – es ist ‚Balada para un
loco’. Viele sagen, man kann es nicht tanzen. Wollen wir es lieber lassen?“
Statt einer Antwort spüre ich ihre Umarmung, den leichten Druck ihrer Stirn an
meiner – und dann setzt, nach einer federleichten Walzereinleitung, auch schon
das Thema ein: „Ya sé que estoy piantao, piantao, piantao“ – „Ich weiß, ich bin
verrückt, verrückt, verrückt“… Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie die
letzten Paare vor diesen Tango nuevo-Klängen zu ihren Schuhbeuteln flüchten:
Die Tanzfläche ist frei für einen Rundflug nur für uns!
Wie schafft sie es bloß, auf diese
gigantischen Impulse zu reagieren – schon sehe ich die Schuhspitzen hinter
ihren Ohren auftauchen: „Loco, loco, loco – verrückt, verrückt, verrückt! Wenn
es Nacht wird in deiner Hafeneinsamkeit, werde ich über das Ufer deines
Betttuches kommen, um dir mit einem Gedicht und einer Posaune das Herz wach zu
halten!“ Längst sind wir beide nichts weiter als Getriebene der Musik, haben
keine Ahnung mehr, was wir tanzen, von wem eigentlich der Schweiß ist, der über
unsere Gesichter rinnt, wo der eine Körper aufhört und der andere beginnt.
Sanft schmiegt sie sich in die zärtlichen Piano-Passagen, um im furiosen Finale
so leicht zu werden, dass sie mit einem Sprung in den Schlussakkord geht:
„Öffne dein Herz, denn wir werden die totale und zauberhafte Verrücktheit des
Lebens probieren. Komm, flieg!" (…)
Pablo Veróns Satz fällt mir ein: „Ich
bin nicht zum Tango gekommen, der Tango ist zu mir gekommen.“ Welch ein Motto
für diesen Abend!
Untrennbar
ist für mich Piazzollas Ballade mit der Gruppe „Youkali“ und ihrem leider schon verstorbenen Sänger Jaime Liemann verbunden. Ich hatte das
Glück, zu seiner fulminanten Interpretation einmal open air auf der Münchner Praterinsel tanzen zu dürfen.
Ich werde diesen Moment nie vergessen.
Meine
Tangofreundin Manuela Bößel hat den
Sänger auch einmal live gehört. Ihr war dieses Erlebnis ebenfalls einen
Text wert. In ihrem Buch „So kann man
das nicht sehen“ schreibt sie dazu:
„Die ersten Takte erklingen, Klavier,
zart umwoben von Bandoneónklängen. Die Geige wirft zerrissene Wortfetzen in die
Musik, begleitet von leisem Hüsteln im Zuhörerraum. Jaime Liemann betritt die
Bühne. Er blickt auf den nackten Fußboden des Kulturetablissements, dann der
Dame in der ersten Reihe direkt in die Augen, holt tief Luft – ich auch – und
beginnt zu singen von der Liebe und vom Tod in Buenos Aires.
Den genauen Wortlaut verstehe ich
nicht, ich spreche kein Spanisch, aber seine Stimme erzählt mir genug: ‚…eine
seltsame Mischung aus vorletztem Vagabund und erstem Schwarzfahrer auf der
Reise zur Venus. …Komm!‘
Ich setze mich verzweifelt auf meine
Hände und knote die Füße um die Stuhlbeine. Geht es nur mir so? Ich will
tanzen! Jaimes Tango und jeder folgende perlen mir direkt in die Seele,
Gänsehaut an Herz und Armen.“
Jaime Liemann, so beschreibt sie es, habe ihr „eine Maske nach der anderen vom Gesicht“
gesungen. Ja, so kann Tango wirken, wenn man ihn zu fühlen imstande ist.
Natürlich
dürfen die Geschmäcker verschieden sein. Wenn ich aber einen einzigen Grund
angeben müsste, warum ich nach 20 Jahren immer noch Tango tanze: Es ist die „Balada para un loco“!
P.S. Herzlichen Dank
an meinen Kollegen Thomas Kröter,
der mir wieder einmal die Idee für einen Beitrag geliefert hat. Ich fand sie in
seinem neuesten Blogartikel:
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