Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 17


Der Tango wurde von Menschen erfunden, die keine große Ahnung vom Tanzen hatten – das sollte man sich in Erinnerung rufen, wenn sich heute diverse hochmögende „Experten“ gar so filigran zu „entscheidenden Details“ äußern.

Wieso komme ich auf diese Schlussfolgerung? Schon einmal deshalb, da der Tango ja aus der Unterschicht stammt – noch dazu von Menschen, die man heute als „Flüchtlinge“ oder „Wirtschaftsmigranten“ bezeichnen würde. Privaten Tanzunterricht gab es damals bestenfalls in den gehobenen Kreisen – und dann eher Ballett oder „anständige“ Gesellschaftstänze ohne zu engen Körperkontakt.

Der Wunsch, sich zu den neuen Klängen zu bewegen, welche Ende des 19. Jahrhunderts aus einem Multi-Kulti-Mix der verschiedenen Völkerschaften am Rio de la Plata entstanden, ging wohl vor allem von den Männern aus: Sie waren in der deutlichen Überzahl, zumeist eher jung und (wegen des Frauenmangels) erotisch unterversorgt. Die ziemlich emotionale Musik kam noch dazu, also wollte man ziemlich dicht an die Weiber ran – wenn da nicht ein Problem gewesen wäre: die Füße.

Der europäische Paartanz beruht stets auf dem Parallelsystem: Geht er beispielsweise links vorwärts, macht sie mit rechts einen Rückwärtsschritt. Dies erfordert ziemlich viel Unterweisung, da man stets ergründen muss, auf welchem Bein der andere gerade steht und welche „Figuren“ man tanzen möchte. Die Aktionen gehen meist in den Schritt des anderen hinein – Fehler führen also unweigerlich dazu, dass man den Partner mit den Beinen rempelt oder auf die Füße tritt. Köpfe und Oberkörper bleiben bei dieser Tanzweise sittsam entfernt, ab der Hüfte hingegen kommt man einander ziemlich nahe mit dem Zwang, stets „auszuweichen“ respektive den anderen zu „verdrängen“.

Was machten daher die Jungs am anderen Ende der Welt, die zwar keinen Tanzunterricht hatten, aber fallweise sicherlich Bewegungstalent aufwiesen? Sie ließen sich auf dieses Risiko gar nicht erst ein!  So entstand der ursprüngliche „Milonguero-Stil“ mit der typischen zueinander gewandten, umgekehrt V-förmigen Haltung, dem „Apilado“. Kuscheltechnisch gesehen war somit der Drops gelutscht – und mit den Beinen und Füßen kam man einander nicht in die Quere. Daher sind ursprüngliche Tangoschritte selten parallel (d.h. Männer und Frauen tanzen oft ganz andere Schrittmuster). Und synchron sind sie ebenso wenig, dazu hätte man ja feste „Abfolgen“ lernen müssen – eher ist es ein zeitlich versetztes Frage- und Antwortspiel zwischen den Partnern.

Typischerweise räumte der Standardtango, den englische Tanzlehrer Ende der 1920-er Jahre choreografierten, mit diesen Neuschöpfungen wieder auf: Die meisten Bewegungen sind hier parallel und synchron, was den „zackigen“ Eindruck dieser Tanzweise fördert.

In den folgenden Jahrzehnten gab es einen regen Austausch zwischen beiden Tanzarten (schließlich kam der „argentinische“ Tango schon Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa an): Das extreme Apilado wich eher senkrechten Körperpositionen, und da man die „enge Haltung“ zunächst nicht aufgeben wollte (hätte wohl insbesondere den Herren nicht behagt), mussten die Beinaktionen sich zunehmend parallel und synchron gestalten. Paradebeispiel ist das berühmte „Caminar“, also einspurige Gehen in den Schritt des anderen hinein. Was demnach für „100 Prozent Tango argentino“ gehalten wird (habe ich erst heute wieder in einer Werbung gelesen), sprich der „Tango de Salón“, ist in Wahrheit eine deutlich an europäischen Einflüssen orientierte Variante des ursprünglichen Tango.

Nun muss das ja nichts Schlechtes sein. Schlimm wird es erst, wenn man die Schritttechnik des alten Stils mit der hergebrachten Tanzschul-Lehrweise verknüpft: Man legt viel zu wenig Wert auf die „Conexión“, also den Oberkörperkontakt, und lässt – da es zunächst „leichter“ erscheint die Männer ständig außen an der Frau vorbeilaufen.

Ein typisches Beispiel ist die berüchtigte „Basse“, bei welcher sich ein männlicher Anfänger bereits nach zwei Schritten dem Scheitern entscheidend genähert hat: Schritt eins geht nach hinten mit dem Risiko, ein dahinter startendes Paar zu rempeln, und bei Schritt zwei steht er außenseitlich links neben der Partnerin. Sollte jemals eine Verbindung bestanden haben, ist sie nun dahin, da man als Beginner die nötige Torsion der Oberkörper zueinander nicht hinbekommt. Stattdessen schiebt man die Frau unter dem Arm mit.

Allen, die Tango lernen wollen, gebe ich daher den dringenden Rat: Bleibt voreinander! Daher ist die beste Grundübung das Caminar, das Gehen „inside“, also in die Bewegung der Partnerin hinein. Nachdem man ihr oft genug auf die Füße gestiegen ist, wird sie es lernen, ihre Schritte weit genug nach hinten anzusetzen – und sie hat dadurch die Chance, mit dem Oberkörper vorn zu bleiben, die Verbindung zum Partner somit zu bewahren. Vorausgesetzt natürlich, der lässt seine Beine ebenso hinten – anstatt mit diesen voraus zu marschieren und die obere Körperhälfte von der Dame weg zu kippen.

Wenn man das einigermaßen hinbekommen hat, kann man das Gehen links oder rechts außenseitlich probieren, und zwar im Parallelsystem oder dem gekreuzten System (beide bewegen also jeweils den gleichen Fuß). Aber in einem haben die Argentinier wirklich Recht: Das Gehen übt man ein ganzes Tangoleben lang!

Ich rate dazu, auf einer Milonga einmal eine Tanda lang (in der man nicht tanzen möchte oder kann) durchzuzählen, wie viele Paare zumindest fallweise „inside“ tanzen, also voreinander in die Schritte des anderen hineingehen (typischerweise per Caminar oder in einigen aufeinander folgenden Sacadas) – und welcher Anteil fast stets „outside“ bleibt, der Männe sich also ständig außenseitlich (meist von ihm aus gesehen links, da er dort mehr Platz hat) an der Frau entlang oder um sie herum bewegt. Ich bin hierbei schon auf neunzig und mehr Prozent „outside“ gekommen! Und dann beurteilen Sie noch, bei wie vielen dieser Paare Sie eine wirksame Verbindung erkennen können, welche zu mehr führt als dem „Ablaufen“ der Schritte! Ich fürchte, in der Mehrzahl werden Sie die Herren eher an die bekannten gelb blinklichternden Begleitfahrzeuge eines Schwertransports erinnern: Sie eskortieren die Dame, anstatt mit ihr zu tanzen!

Nervig finde ich es, wenn auf einer Veranstaltung die meisten Paare das Umeinander-Herum-Getänzel zeigen. Da dies oft ziemlich stationär geschieht, kommt man mit zwei Gehschritten schon zum nächsten Verkehrshindernis". Tango ist ein Schreittanz, kein Spreiztanz! 

Hier ein Beispiel von vielen, wobei die gezeigten Paare gar nicht wirklich „schlecht“ agieren (solche Videos veröffentlichen Veranstalter kaum). Aber praktisch alle Männer laufen an ihren Partnerinnen außenseitlich vorbei, wirklich spannend oder gar sensitiv wirkt da nix:


Ein weiterer Vorzug des Tanzens voreinander ist, dass man die Kräfte zur Mitte hin zentriert, und zwar über einen gemeinsamen Schwerpunkt und nicht zwei auseinander liegende. Und wenn man dann noch jeden Schritt (vor allem bei langsamerem Tempo) einzeln betont, in den Boden und die Musik hinein tanzt (also „con cadencia“, wie wir Argentinier sagen) sieht ein einfaches Gehen viel mehr nach Tango aus als das oberflächliche Abspulen von Schrittkombinationen, bei dem man oft auch noch zu schnell wird, weil die einzelnen Bewegungen eben nicht genügend ausgetanzt werden.

Ich verstehe daher die um sich greifende Begeisterung eher nicht, wenn ein mittleres Showtanzpaar einen mäßig langweiligen Tango interpretiert. Sie rührt wohl daher, dass die beiden zumindest diese wichtigen Grundlagen gut umsetzen. Nur ist daran nichts Geheimnisvolles oder gar nur im Blut von Argentiniern Vorkommendes. Jeder und jede, der (oder die) ein paar Jahre intensiv tanzt, sollte das grundsätzlich hinkriegen!

Hier das Beispiel eines Paars, das ich früher, als sie noch mehr machten, sehr bewundert habe. Aber, das muss man ihnen bei aller Schleicherei zubilligen, die Basics haben sie perfekt drauf – beachten Sie die immer wieder einsetzenden „Inside“-Aktionen:


Das müsste halt, wenn man schon Unterricht nimmt, darin auch vorkommen. Wenn ich eine Milonga besuche, deren Veranstalter auch Tangokurse geben, habe ich nach Betrachtung einer Tanzrunde (bei der ja zumindest in der ersten Stunde auch viele ihrer Schüler zu sehen sind) einen ziemlich gesicherten Eindruck von der Qualität der gebotenen Unterweisung. Ich halte dabei nicht Ausschau nach gedrechselten „Figuren“ (die oft lediglich hohen Comedy-Wert haben), sondern nach den beschriebenen Grundlagen. In der überwiegenden Zahl der Fälle könnte ich niemandem raten, dort Geld für Tangotraining zu hinterlassen.

Das heißt aber häufig nicht, dass die Lehrenden davon keinen Schimmer haben (obwohl dies durchaus vorkommt), sondern, dass sie es lieber lassen, auf solche Dinge zu bestehen. Wirklich mit- und voreinander zu tanzen, in die Schritte des anderen zu gehen, jede Bewegung zu betonen und dabei Knie- und Sprunggelenke zu betätigen, ist richtig anstrengend. Nach einer solchen Tanda steht mir der Schweiß auf der Stirn – und der Grund ist nicht vorwiegend der, dass ich oft einen Pulli trage…

Ich fürchte, vielen ist die Mühe, Tangos dieser Sorte (von Valses und Milongas ganz zu schweigen) zu tanzen, zu hoch. Tangolehrer, welche auf solchen Aufwand bestünden, müssten schon einen exzellenten Ruf haben, um wirtschaftlich überleben zu können. Dennoch würden ihnen Schüler davonlaufen und zu Unterrichtenden wechseln, die es ihnen „leichter“ machen.

Für mich jedoch ist das Gefühl, voll und ganz mit einer Tanzpartnerin verbunden zu sein, essenziell. Auf dem Parkett hiesiger Milongas sehe ich dies immer seltener. Oft möchte ich den Kerlen zurufen: „Wenn es euch keinen Spaß macht, mit einer Frau zu tanzen, dann sucht euch einen Mann – und wenn euch auch das nicht gefällt, lasst halt den Tango sein!“

Das soll nun nicht heißen, dass man beim Tango stets aneinander pappen muss. „Verbindung“ bemisst sich nicht in Zentimetern, sondern an Intensität. Und wenn man viel kann, wird sie auch nicht durch außenseitliche Aktionen unterbrochen. Anfängern lege ich jedoch ans Herz, dieses vor dem des Gegenübers zu positionieren. Und wer Angst hat, der Partnerin in die Fußaktionen zu geraten oder von einem Büstenhalter erdolcht zu werden, ist beim Tango mit Sicherheit falsch! 

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