Aktuelles aus der Münchner Chaos-Forschung



Manchmal gibt es seltsame Zufälle: Während in der Facebook-Gruppe „Tango München“ die Debatte um die geordnete Ronda immer heftiger wurde, besuchte ich zwei Milongas, die sich in dieser Hinsicht wie Tag und Nacht unterschieden.

Dabei waren sie musikalisch vergleichbar: Schön ausgesuchte, vielfältige Klänge aus verschiedenen Epochen des Tango, nette, freundliche Gastgeber.

Die großen Unterschiede: Die eine eher unspektakulär, da seit längerer Zeit in ähnlichem Format angeboten, in der Konkurrenz gegen zahlreiche traditionelle Milongas dieser Stadt ein wenig im Hintertreffen, daher knapp mittlere Besucherzahl, Beschallung aus der Konserve. Die andere Veranstaltung in eher glamourösem Rahmen, Live-Musik, Showtanz, also volle Bude.

Eine „geordnete Ronda“ gab es in beiden Fällen nicht – na gut, irgendwie tanzte man schon gegen den Uhrzeigersinn, aber nicht ohne zu überholen, freie Flächen anzusteuern – halt die üblichen „Todsünden“ gegen den Tango-Zeitgeist.

Im ersten Fall war das Tanzen ein Vergnügen, lässig und entspannt, auf der anderen Milonga ultimativ nervig. Ich war nach jeder Tanzrunde froh, wenn meine Partnerin und ich unbeschadet das Chaos überstanden hatten. Nebenbei: Auf beiden Veranstaltungen kam ich ohne Rempler durch – jahrzehntelange Routine im Ausweichen macht sich doch bezahlt…

Was waren die Ursachen für die eklatanten Unterschiede? Klar, man hatte im ersten Fall einfach mehr Platz. Den braucht man halt zum Tanzen – ebenso wie Wasser zum Schwimmen. Wenn dir die Brühe nur bis an die Knöchel reicht oder dir lediglich eine Briefmarken-Fläche bleibt, kannst du ausschließlich Mängelverwaltung betreiben – da nützen die schönsten Handzettel mit Verkehrsregeln wenig.

Das war es aber nicht allein: Bei der ersten Milonga gab es sehr viele gute Tänzerinnen und Tänzer. Ich kenne dort Paare, die kannst du nicht rempeln, auch wenn du es wolltest: Instinktiv weichen sie der Gefahr aus. Auf der anderen Veranstaltung war das tänzerische Niveau lausig – noch schlimmer aber: Mindestens 80 Prozent der Tänzer waren ausschließlich von den zu drehenden Figuren absorbiert, für die Umgebung war mental kein Platz mehr frei.

Natürlich hätte der betreffende Veranstalter die netten Handzettel mit den Verkehrsregeln austeilen können (was er nie täte, dafür kenne ich ihn zu gut) – ich wage jedoch die Vorhersage: mit null Effekt. Es gibt halt Tänzer (oder Autofahrer), die meinen, alles richtig zu machen, auch wenn sich bei ihnen mangelndes Tanztalent mit der Raumerfassung eines Bachstrudelwurms harmonisch verbinden. Selbst- und Fremdwahrnehmung sind stets verschieden, bei manchen Leuten in gigantischem Ausmaß. Da sind stets die anderen schuld – das ist unheilbar!

Natürlich könnte ein Organisator solche Menschen ansprechen, im schlimmsten Fall auch rausschmeißen – mit der Folge, das in der Tanzszene ohnehin schlechte Image des Tango argentino endgültig auf Ku-Klux-Klan-Niveau abzusenken. Ich wage die Prognose: Das wird, außer in handverlesenen Zirkeln, nicht passieren – schon deshalb, weil diese Naturen zu den besten Konsumenten von Kursen und Workshops gehören, und wegen der Lernresistenz auch zu den treuesten.

Der für mich frappierendste Unterschied zwischen den beiden Milongas: Die eine fand sonst wo statt, die andere in der Nähe von München – ein Großteil der Besucher wohl aus der Landeshauptstadt. Daher verstehe ich schon, dass bei dem Thema dort die Wogen hochgehen: In dieser Szene scheint der Anteil tänzerischer Autisten enorm zu sein.

Über die Gründe kann man nur spekulieren: Vielleicht ist es in den Metropolen einfacher, zum Tango zu kommen. Auf dem flachen Land brauchst du ein Auto und musst weit fahren. In der Großstadt gibt es mehr Angebote, und da reichen U-Bahn oder Radl. Und erfahrungsgemäß sind Masse und Klasse beim Tango unvereinbare Größen. Oder sind dort die Tangolehrer häufiger, welche immer noch feste Figuren und die Basse mit dem Rückwärtsschritt lehren? Zudem nimmt die Ehrlichkeit des Feedbacks bei Tangolehrern bekanntlich mit steigender Konkurrenz drastisch ab…

Für mich ist nur eins sonnenklar: Zettel mit Spurverordnungen helfen da gar nix – autistische Tänzer können nicht sinnentnehmend lesen. Und verbale Belehrungen sind ähnlich erfolgversprechend wie weibliche Versuche einer Beziehungsdiskussion: Der Männe hört zwar irgendein Geräusch, aber…

Mehr Platz könnte helfen – und sollten dann die Eintrittspreise steigen, wäre dies ein durchaus willkommener Nebeneffekt. Und ein bisserle Piazzolla könnte vielleicht ebenso abschreckend wirken.

Um die Stimmung meiner Leser nicht noch weiter abzusenken, jetzt noch was Erfreuliches: Die ganze Diskussion hat meinen Freund Cassiel bewogen, die Kreidezeit hinter sich zu lassen und im bekannten Originalton noch einen Debattenbeitrag zu leisten:

„Na dann schreibe ich doch auch noch einmal. Mein Beitrag oben bezog sich auf eine Veranstaltung in München, die explizit als ‚traditionell‘ ausgeschrieben war. Das war also gleichsam die Geschäftsgrundlage. Ein Freund aus Schweden (der nun auch nicht so wahnsinnig viel Geld hat) ist – dieser Beschreibung vertrauend – extra angereist und hat Milongas erlebt, bei denen er (bis auf die Tänze mit seiner Partnerin, die extra aus England gekommen war) gesessen ist. Warum? Die lokalen Tänzer haben einfach verbal aufgefordert und sind für die Cortina einfach auf der Tanzfläche stehen geblieben. Als er höflich einen lokalen Tänzer während der Cortina gefragt hat, ob er zur Seite treten könne, damit auch er freie Sicht für die nächste Tanda hat, wurde er belehrt: ‚Wir sind hier zum tanzen, nicht zum gucken‘. Diesen Eindruck von der Tangoszene in München hat er mit nach Hause genommen und wird nie wieder nach München zum Tango fahren.

Bei der gleichen Veranstaltung hat ein Tänzer (den ich schon Jahre kenne) es geschafft, mich in einer Tanda viermal zu treten (ohne ein Zeichen der Entschuldigung). Das ist m.E. das Kernproblem. Es sind nicht die sog. ‚Anfänger‘ im Tango. Es sind die Tänzer, die seit Jahren – mehr oder weniger rücksichtslos – ihren Stiefel durchziehen. Dazu kommen Veranstalter, die aus Angst vor dem Wegbleiben dieser Leute (und damit verbundenen finanziellen Einbußen), diese Menschen einfach gewähren lassen.

Inzwischen habe ich per PM von einer Tänzerin aus München erfahren, dass die guten und rücksichtsvollen Tangueros aus München viele lokale Veranstaltungen meiden. Die haben einfach keine Lust auf ‚griechisch-römisch‘ und fahren lieber (u.U. auch weite Wege) zu guten Veranstaltungen.

Und was passiert jetzt hier? Ein paar Diskutanten schließen sich hier der ‚Empöreria‘ an und lassen einmal mehr ordentlich Dampf ab. Rund um den pöbelnden Pörnbacher Pensoinisten scharen sich da diejenigen, die laut ‚keine Regel‘ rufen (…). Gerhard R. befindet sich mal wieder auf dem Kriegspfad, schreibt einen Blogartikel und bedient sich hier in der Diskussion einmal mehr der Werkzeuge der Populisten. Er postuliert die (m.E. unangemessene) Parallele zum Straßenverkehr und hackt anschließend auf dem Tangobegriff der eher traditionell orientierten Tänzer herum.
(Nachfolgend erläutert der Autor den Paragrafen 1 der Straßenverkehrsordnung)

Es gab eine Zeit in meinem Tangoleben, da bin ich dreimal die Woche in München beim Tango gewesen (…). Schon damals sind mir einige lokale ‚Helden‘ aufgefallen. Die ziehen z.T. noch heute gnadenlos ihren Stiefel durch und nehmen – so sehe ich es jedenfalls – eine ganze örtliche Szene als ‚Geisel‘ oder Bühne für ihren Auftritt. Für einen Abend halte ich das schon aus. Menschen, die extra mit dem Flugzeug anreisen, sind verständlicherweise entsetzt und werden zukünftig München meiden. Ob dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen ist, liegt an den Tanzenden und Veranstaltenden in München. Weiter oben habe ich vom Metropol-Phänomen im Tango geschrieben. Ich habe den hier skizzierten Mechanismus gemeint, den ich verstärkt in Großstädten beobachte. Kurz: In Großstädten gibt es häufig ‚mehr Häuptlinge als Indianer‘ und damit wird der (kommerzielle) Wettbewerb stärker. Im Windschatten dieser Entwicklung können dann Menschen wie Gerhard und ihr Gefolge ihr Ding durchziehen.“
(Original: siehe Link im letzten Artikel)

Der „pöbelnde Pörnbacher Pensionist“ möchte hierzu noch einige hilfreiche Tipps geben:

Alter Schwede, wenn einer es schafft, dich während einer einzigen Tanda viermal zu treten, gibt es dafür nur zwei Erklärungen: Entweder war das Absicht oder dein Navigationsvermögen ist lausig. Um mich viermal treten zu können, braucht man Jahre.

Und schönen Gruß an den schwedischen Tänzer mit den begrenzten Barmitteln, der mit dem Flieger angereist war, um sich mit seiner Freundin aus England zu treffen: Wenn einem während der Cortina der Blick verstellt ist, empfehle ich aufzustehen und einen Meter zur Seite zu treten – regt auch den Kreislauf (ronda corporal") an. Und Reisen hilft, neue Welten zu erkunden: Wenn allgemein verbal aufgefordert wird, einfach auch mal hingehen und fragen – andere Länder, andere Sitten!

Und ja, die „guten und rücksichtsvollen Tangueros aus München“, die „viele lokale Veranstaltungen meiden“ habe ich neulich getroffen. War ein begrenztes Vergnügen.

Jedenfalls bin ich beeindruckt von meinem Einfluss: Obwohl ich schon seit Jahren keine Münchner Milonga mehr besuche, habe ich es fertig gebracht, in der Landeshauptstadt ein derartiges Tango-Chaos anzurichten. Wow!

Im Ernst: Mehrfach habe ich nun schon angeregt, dem Gedränge auf den großstädtischen Veranstaltungen zu entgehen, indem man kleine, unbedeutende Milongas in der Provinz besucht – oft mit interessanterer Musik und netteren Gästen. Und die Veranstalter würden sich freuen, wenn mal mehr als 10 Besucher kämen.

Aber nein, wie ich erst gestern auf hartnäckiges Nachfragen zu lesen bekam: Man muss ja auf die vollen Milongas, um hochwichtige Sozialkontakte zu pflegen. Na eben: Man rennt dorthin, wo alle anderen schon sind, und fordert dann, per Regularien das Problem einer vollgestopften Tanzfläche zu lösen – soweit die Tango-Toscana-Fraktion

Ich werde mich jedenfalls auch fürderhin nicht scheuen, Tango in Caritas-Sozialstationen, Nebenzimmern von Cafés oder leerstehenden alten Gasthäusern in kleinen Dörfern zu tanzen. Dort finde ich die Seele des Tango eher als in der Schicki-Micky-Society.


Aktuelle Ergänzung:



Die Debatte in der Münchner Facebook-Gruppe ufert und artet immer mehr aus. Man kann es  dort nachlesen. Selber mag ich nichts mehr zitieren – mit einer Ausnahme:

Klaus Hörberg, der immer wieder durch politbüromäßige Linientreue auffällt, schrieb Folgendes:

„Wenn jemand rücksichtsvolles Tanzen als Schwäche deutet, dann kann das eigentlich nur ein Turniertänzer sein. Auf Turnieren zählt die bestmögliche Darstellung der eigenen Fähigkeiten, je nach Charakter wird hier das Abdrängen von Mittänzern bewusst eingesetzt, manche Wertungsrichter belohnen das mit einem Extraleckerli. Wie auch eine Vogelmama das lauteste Baby als erstes füttert. Eine Milonga ist aber kein Turnier. Wer den Unterschied zwischen Milonga, Tanzshow und Turnier mangels Erfahrung oder Anleitung nicht kennt, der wird das schon noch lernen. Wer aber trotz Erfahrung anders tanzt ist entweder mit einem miesen Charakter, null Empathie oder unendlicher Dummheit gesegnet.“

Eins muss ich als trotz Erfahrung anders Tanzender, da mal Biologie studiert habend, jedoch korrigieren: Die Fütterung wird durch das Sperren der Jungvögel ausgelöst. Hierzu dient als Schlüsselreiz der innen meist rote Rachen, oft kontrastiert von einem andersfarbigen Schnabelrand. So bekommt  in der Regel das am ersten geschlüpfte Junge das meiste Futter und wächst so schneller. Für Laien kurz und knapp: Das Futter erhält der Fetteste, welcher das Maul am weitesten aufreißt!

Zum Abschluss wollte ich ein Video zum Thema „Ronda-Training“ anfügen. Nun gibt es zwar auf YouTube Tausende von Tango-Unterrichts- oder Vortanz-Filmchen, zu selbigem Thema bin ich jedoch nur auf die folgende Quelle gestoßen. Aber wenn man die Personen kennt, welche die rüden Verhältnisse auf dem Parkett beklagen, passt es vielleicht doch (man beachte vor allem die Contango-Einlage ab 3:17):

Kommentare

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    1. Ich sage es gerne auch zum hundertsten Mal: Ohne namentliche Identifizierung keine Veröffentlichung!

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