Diaspora-Traditionalisten


Auf den folgenden Text wurde ich durch den neuen Beitrag von Yokoito aufmerksam. (https://tangoblogblog.wordpress.com/2016/04/20/two-to-tango)

Leider hat uns mein Bloggerkollege wieder nicht mit einer Übersetzung erfreut, was ich hiermit nachhole. Ich finde, der Artikel von der in Buenos Aires lebenden Iona May Italia hat es verdient:

Diaspora-Traditionalisten

Beim Tango habe ich eine sehr starke Vorliebe für alle traditionellen Dinge. Ich liebe traditionelle Milongas mit zugewiesenen Plätzen und Bedienung; ich mag getrenntes Sitzen – die Männer hier und die Frauen dort; ich liebe es, mich herauszuputzen und meine schicken Highheels zu tragen; ich schätze Mirada und Cabeceo, ich mag die klassischen Tanzstile, entweder mit anhaltend enger Umarmung oder den Villa Urquiza-Stil; mir gefällt alternative Musik oder Elektrotango nicht, und ich tanze nie dazu; mich interessieren Mischungen von Tango und anderen Tanzformen nicht; ich ziehe es vor, wenn die Leute eine Tanda miteinander tanzen und das Parkett während der Cortina räumen; ich meine, jeder könnte seinen Tanz mit einem umfangreicheren Wissen über Tangogeschichte und -kultur bereichern; ich mag es, die Texte mitzusingen; ich tanze mit einer Menge älterer Männer; mein Lehrer ist ein alter Milonguero mit einer Tanzkarriere, die sich bis in die frühen 50-er Jahre erstreckt. Ich bin konservativ in meinem Tangogeschmack.

Aber manchmal habe ich das Gefühl, auf der falschen Seite dieser Schlacht zu stehen, weil so viele andere Traditionalisten mich ärgern oder sogar wütend machen (zumindest durch das, was sie schreiben; persönlich mag ich sie seelenverwandt finden), speziell ältere Herren aus der Diaspora, welche in großspurigen Tönen vortragen, dass ihr Tango der einzig Wahre sei.

Ich habe genau darüber nachgedacht, warum diese Authentizitäts-Polizei mich so sehr nervt. Und ich denke, es läuft vielleicht darauf hinaus: Tango ist für mich im Innersten immer noch ein Tanz. Er mag auch eine Musiksparte sein, ein Kulturphänomen, ein integraler Teil der Porteño-Identität – aber er ist auch ein Tanz, ein sozialer Tanz, ohne strenge Regeln, sich ständig verändernd und mit den Präferenzen der Tänzer entwickelnd, geformt von geheimnisvollen Trends und Tendenzen. Es gibt keine formale Lehre des Tango, keine Zunft, keine allgemein anerkannte Zertifizierung, keine Vereinigung der Tangotänzer mit dem Monopol auf die Ausübung ihrer Handwerkskunst, keine Bibel, kein festgeschriebenes Regelbuch, keine Verfassung.

Es geht darum, einfach so viel Freude wie möglich auf einer Milonga und in der gegenseitigen Umarmung zu finden. Ich glaube, Geschichte hat einen Wert an sich, und viele der hier entwickelten Gebräuche entstanden, um uns beim sozialen Miteinander zu helfen, damit sich die Menschen wohl und unbeschwert fühlen und möglichst große Chancen haben, passende Partner auf dem Parkett zu finden.

Aber ich glaube nicht, dass die Códigos und die Geschichte absolut zu nehmen sind. In einem erweiterten Sinn sind sie vom Wind erzeugte Muster im Sand. Worauf ich mich am Ende eines Tages freue, ist die Erfahrung, das Gefühl des Augenblicks, in jemandes Armen zu sein. Zu TANZEN.

Wenn Sie wollen, dass die Menschen traditionelle Musik mögen, müssen Sie ihnen zeigen, dass es bereichernd und erfüllend ist, zu traditioneller Musik zu tanzen. Wenn Sie wollen, dass sie traditionellen Codes folgen, müssen Sie ihnen zeigen, dass sie damit mehr Spaß haben und weniger Frust erfahren. Sie können sie nur überzeugen – Sie können mich nur überzeugen wenn die Tanzerfahrung selbst köstlich ist. Wenn Sie der weltweit größte Experte für Tangogeschichte sind und nicht einmal davon träumen, eine einzige Regel zu übertreten, wenn Sie niemals außerhalb des Lo de Celia getanzt haben (Anm.: legendärer Tangoclub in BA), werden Sie niemals Leute zu Ihrer Denkweise bekehren, wenn sie Ihre Umarmung steif und unbequem finden. Sie werden niemals die besseren Tänzer auf Ihre traditionelle Milonga locken, wenn die voll von schusseligen alten Schmuseschlurfern ohne jede tänzerische Dissoziation ist. Sie werden Ihren Cabeceo nie willkommen heißen, nur weil Sie starr in Ihren Ansichten sind.

Zwischen einem autoritären Meister der Tango-Überlieferungen, dessen Tanzen ärmlich ist, und einem höchst gewandten experimentellen Tänzer wie Homer Ladas werden die meisten Frauen Homer wählen; werde ICH Homer wählen. (Anm: amerikanischer Nuevo-Tänzer und Tanzlehrer) Einfach, weil es sich in seinen Armen gut anfühlt, er bewegt sich auf eine Weise, die bei seinen Partnerinnen wunderbar ankommt. Es ist Freude in seinem Tanz. Und es geht immer noch um einen Tanz, wissen Sie, es geht immer noch um die Erfahrung, eine andere Person zu halten und sich mit ihr auf dem Parkett umher zu bewegen.

Seid umarmt! 
Terpsi

Meine Antwort:

Liebe Terpsi,

ich bin ganz anders, aber mir geht es sehr ähnlich. Ich würde niemals Milongas mit zugewiesenen Plätzen und Geschlechtertrennung besuchen, mag mich eher schlicht kleiden, trage keine schwarzweißen Schuhe und tanze am liebsten einen Mix verschiedener Stile auf vielfältige, auch moderne Musik. Mirada und Cabeceo können, aber müssen nicht sein, und wann ich mit dem Tanzen beginne und aufhöre, entscheide ich selber und nicht der DJ. Seit langer Zeit lerne ich ausschließlich durch die Musik und von meinen Partnerinnen auf den Milongas. Somit bin ich in meinem Tangogeschmack eher fortschrittlich (oder unangepasst).

Und dennoch hast Du sowas von Recht! Was machen wir eigentlich für ein Gewese, wenn es um das Hochgefühl geht, in jemandes Armen zu liegen und sich zur Musik zu bewegen?

Selbstredend ist mir, vice versa, eine Tänzerin lieber, die Canaro traumhaft interpretiert, als eine, die mir zu Otros Aires einen Kungfu-Kampf liefert.

Danke für diesen Beitrag und Umarmung zurück!
Gerhard

P.S. Ich hätt‘ nur – für den höchst unwahrscheinlichen Fall eines gemeinsamen Tanzes – ein kitzekleines Anliegen: Könntest bitte auf das Mitsingen verzichten?

P.P.S. Kurzversion (extra für Thomas Kröter)
1. Terpsi ist eine Anhängerin des traditionellen Tango.
2. Manche Vertreter dieser Richtung gehen ihr mächtig auf den Zeiger.
3. Sie findet nur diejenigen überzeugend, welche ihr Wohlgefühl vermitteln - notfalls sogar Neotänzer.
4. Gerhard ist ganz ihrer Meinung, nur eben anders! 

Hier der Originaltext:
https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=975957672497633&id=100002502284000

Kommentare

  1. Hallo Gerhard,

    eine schöne Übersetzung - ich will nicht behaupten, daß ich die absolute Autorität in Sachen Übersetzung E-D bin, aber ich erkenne es schon, wenn ich was Gutes sehe. Ich wette, das Ding hast Du nicht einfach so in 5 Minuten runtergeschrieben - wenn doch, noch mehr Respekt.

    An einem Punkt hast Du aber glaube ich doch ein wenig geschlampert: die Übersetzung ins Kröterische ist noch viel zu "old style", will sagen, sie ist ohne weiteres lesbar. Hier mein Alternativvorschlag:
    1. terpsi ist 1 anhaengerin des traditionellen tango. 2. manche vertreter dieser richtung gehen ihr maechtig auf den zeiger. 3. sie findet nur die ueberzeugend welche ihr wohlgefuehl vermitteln - notfalls sogar neotaenzer. 4. gerhard ist ganz ihrer meinung nur eben anders!

    ich habe mir hier erlaubt, die umlaute umzuwandeln, weil 1 amerikanische studie ergeben hat, dass man damit die texte im schnitt 2,4% schneller fertigbekommt.

    Ich glaube, ich habe vor ein paar Jahren mal Macbeth als Powerpoint-Präsentation gesehen…drei oder vier Slides mit Bulletpoints. Spart auch mächtig Zeit.

    Ach ja…und was das Singen angeht – Terpsi, nimm mich und nicht Gerhard! Bei mir darfst Du singen. Leise, direkt am Ohr. Ich habe zwar erst Erfahrung mit Summen, aber das war auch schon nicht schlecht.

    xoxo

    Yokoito

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    1. Lieber Yokoito,

      nein, in fünf Minuten geht da nix mit Übersetzen, eher schon in zwei Stunden!
      Aber ich fand es lohnend, weil der Text Toleranz sowie eine gemeinsame Perspektive zeigt, die im Tango die verschiedenen Lager wieder annähern könnte.

      Bei der Übersetzung ins „Kröterische“ hast allerdings die Rechtschreibfehler vergessen…

      Übrigens hat T.K. nun auf FB Deinen „Zuckerberg-Text“ verlinkt. Na, geht doch!

      Macbeth als Powerpoint-Präsentation – herrlich! Sollte man mal mit einem anspruchsvolleren Tangotext versuchen (z.B. „Balada para un loco“).

      Beste Grüße
      Gerhard

      P.S. Ja bitte, nimm mir Frauen ab, die beim Tanzen in mein Ohr singen! Wenn man mit einer Sängerin verheiratet ist, ist man halt verwöhnt…

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  2. Lieber Gerhard,

    ja, sehr schöner Text mit einer tollen Übersetzung! Besonders gut gefällt mir "voll von schusseligen alten Schmuseschlurfern ohne jede tänzerische Dissoziation". Vielleicht sollte ich doch mal bei FB vorbeischauen (dessen Firmenpolitik mir zuwider ist, denn ich möchte nicht ungefragt verschiedene Bereiche meines Lebens öffentlich miteinander verknüpft sehen).

    Das Video ist wunderbar! "Kröterisch" müsste aber doch eigentlich "kroeterisch" heißen.

    Beim Tanzen singe ich nicht mit, aber beim Hören schon manchmal...

    Du und Yokoito schreibt so viel, da komme ich gar nicht mit mit den Kommentaren, daher ab die Post mit diesem und dann zum nächsten.

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  3. Liebe Annette,

    danke schön, da macht man sich doch gerne die Mühe! Das von Dir erwähnte Zitat lautet übrigens im Original „full of bumbling old cuddleshufflers with no dissociation“ – schwer zu übersetzen.

    Deine Korrektur ist natürlich richtig, der Familienname müsste sich mit Umlaut schreiben!

    Und beim Hören meiner Lieblingstangos singe ich selbstverständlich auch mit – nur mag ich das keiner Tanzpartnerin zumuten.

    Beste Grüße
    Gerhard

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