Vida – The great Dance of Argentina (Nicole Nau & Luis Pereyra)



Unter diesem Motto veranstaltet das Ensemble um Nicole Nau und Luis Pereyra von Mitte Oktober bis Mitte Februar eine Tournee mit zirka 70 Auftritten im deutschsprachigen Raum – schon das ist eine Energieleistung! Gestern sah ich die Darbietung in der sehr gut besuchten Stadthalle Gersthofen. Um den Fans das hektische Herunterscrollen bis zum Ende meines Artikels zu ersparen: Es war eine durch und durch professionelle Show, die ihr Geld sicherlich wert ist.

Nun sollte man aber wissen, dass mit dem „großen Tanz Argentiniens“ beileibe nicht nur der Tango gemeint ist. Knapp die Hälfte des Programms ist der Folklore gewidmet und damit Tänzen wie Chacarera, Zamba, Gato oder Malambo – und gerade bei diesen Rhythmen kommt das Titelthema „Vida“ (Leben) heftigst zur Geltung.

Bewundernswert ist der oft fliegende Rollen- und Kostümwechsel in diesem nur achtköpfigen Ensemble (drei Tanzpaare sowie zwei Musiker). Doch wenn es sein muss, greifen auch die Tänzer zur Trommel, der Gitarrist singt sehr schön, und das Multitalent Luis Pereyra liefert sowieso die gesamte Bandbreite: tanzen, Gitarre spielen, singen, Percussion aller Art sowie die gekonnt artistische Beherrschung der Boleodoras (an Seilen befestigte Kugeln als Kampf- und Fanginstrument).

Beim Studium des Programmheftes wunderte ich mich zunächst, warum man den Tango überwiegend im ersten Teil der Vorstellung zusammengefasst hatte. Nachher wusste ich, dass dies zu Recht geschah, denn es war der deutlich schwächere Teil. An der Musik lag es nicht: Offenbar wissen zumindest professionelle Showveranstalter um die dynamische Kraft moderner Tangointerpretationen, und so blieben dem Publikum Einspielungen aus EdO-Zeiten erspart. Die Musiker Daniel Rubén Gómez (Bandoneon) und Javier Tommasi (Gitarre) interpretierten Klassiker sowie auch Tango nuevo derartig schön, dass man für mein Empfinden auf die gelegentlichen Einspielungen aus der Konserve hätte verzichten können (so toll beispielsweise „Tanguera“ in der Originalversion von Mariano Mores auch ist).

Der weniger zwingende Eindruck ging von den Tänzern aus: Während Luis Pereyra bei den Folklorestücken wie ein Vulkan ausbricht und singt, tanzt, trommelt und steppt, was das Zeug hält (und dies auf beeindruckendem Niveau), bleibt er beim Tango seltsam angespannt und kühl. Sicherlich beherrscht er sein Hand- (oder Fuß-)werk, aber er läuft – oft auch etwas vor dem Takt – ziemlich ungerührt durch die Musik und zeigt dabei die zu erwartenden Bühnenbewegungen. Und Nicole Nau passt sich (leider) diesem Stil an. Dass sie es viel besser kann, sieht man vor allem im zweiten Teil, wenn sie allein (oder ganz selten einmal mit einem anderen Partner) tanzen darf. Sicherlich muss ein Paar in reiferem Alter nicht mit jüngeren Tänzern in Punkto Artistik und Tempo konkurrieren, dafür aber sollte es anderes bieten: Reife, Sinnlichkeit, Eleganz, Schweben. Gelegenheit dazu hätte es zum Beispiel beim Piazzolla-Highlight „Adiós Nonino“ gegeben, welche man aber verstreichen ließ: Nach einer kurzen „Damengymnastik“ zu Beginn überließ man die Musiker hinter durchscheinenden Gardinen bei leerer Bühne sich selbst. Dies ist auch insofern schade, da die Werbung für die Show natürlich vor allen Nicole Naus Ausnahmekarriere als Tangotänzerin hervorhebt. Ohne ihren Namen gäbe es sicherlich nur halb so viele Zuschauer.  

Die anderen beiden (deutlich jüngeren) Paare hätten bei ihrer Begabung diese Lücke füllen können, nur zwang man sie leider häufig in feste Choreografien (zum Teil sogar parallel quasi als „Formationstanz“). Nebenbei: Wieso muss man den Interpretationstanz Nummer eins, also den Tango argentino, überhaupt in so starre Formen pressen? Gerade dem großartigen Fernando Giménez mit seiner Partnerin Ivanna Carrizo hätte man hier viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten geben sollen. Mehr Glück hatten seine Kollegen Heber Mallorquin und Sofia Orlando, die mit ihrem Tanz zu Piazzollas „Lo que vendrá“ nach meinem Geschmack den künstlerischen Höhepunkt des Abends ablieferten: In solchen leider zu seltenen Momenten konnte man fühlen, was Tango sein kann.

Danach ging es heftig ab mit argentinischer Folklore, die mit einer solchen Lebensfreude, Wucht und Dynamik dargeboten wurde, dass der Saal kochte. Dem Ensemble gelangen auch ausnehmend schöne Bilder wie beispielsweise beim Damentrio zur Zamba „Mientras bailas“. Für mein Laienempfinden hinsichtlich Volksmusik wurde mir das Getrommel und Gestampfe im letzten Drittel zwar schon etwas viel, insbesondere die männliche Anmach-Melange aus Stiefeln, verschwitzten Oberkörpern und Stakkato-Bewegungen so in Richtung "David Garrett ohne Geige". Wie das Gekreische im Saal bewies, war das andere Geschlecht aber wohl mehr als hingerissen, und immerhin hatte man vorher beim Tango auf den branchenüblichen Erotik-Schmus verzichtet. Wie schön!

Wie der Name schon sagt, gefällt Volksmusik dem Volk, und das Ensemble spielte hierbei gekonnt mit den Emotionen der Zuschauer, welche begeisterten Beifall spendeten. Der Versuch allerdings, in der Zugaben-Serie mit „Caminito“ und „Flor de lino“ wieder etwas Tangostimmung ins Spektakel zu reimportieren, erreichte mein schon halb ertaubtes Gehör und Gemüt dann kaum noch.

So bleibt mein Gesamteindruck der sicherlich imponierenden Show etwas zwiespältig: Ein großartiges Folklore-Ensemble, doch was die Faszination des Tango in seinen verschiedenen Spielarten ausmachen kann, musste man vorher schon wissen – gestern in Gersthofen war es nur ansatzweise zu erspüren.

Infos und Tourdaten: www.the-great-dance-of-argentina.de

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