Ein Hurz auf den Tango!


„Das ganze Leben ist ein Quiz,
und wir sind nur die Kandidaten.“
(Hape Kerkeling)

In meinem vorigen Artikel wagte ich abschließend einen Vergleich der Interpretationen des bekannten Tangos „La Cumparsita“ – einmal gespielt vom Orchester Juan D’Arienzo, in der anderen Fassung vom Orquesta Tipica Victor. Ich deutete zart an, letzere sei halt musikalisch viel einfacher – um nicht zu sagen: simpel und daher natürlich ungleich leichter zu tanzen. Allerdings auch weit langweiliger.

Wieder einmal wurde mir die Belehrung zuteil (siehe dort im Kommentarbereich), einer verfeinerten Zunge (bzw. Ohr) erschlössen sich gerade bei der von mir geschmähten Version ungleich genussvollere Momente, um einen schönen Tanzabend noch einmal in schöner Verbindung mit der Última-Tanda-Tanzpartnerin ausklingen zu lassen (bei einer Cumparsita ja mehr als wahrscheinlich). Selbst „Mikrosynkopen“ vermeinte der Kritiker darin zu vernehmen (ob man die mit  Antibiotika wegbringt, ist mir leider nicht bekannt). So könne man hinter der langweiligen Fassade, wenn man fein hinhöre, die wunderbarsten Nuancen und Aromen entdecken und sodann glücklich mit der Muse ins Bett gehen (oder so ähnlich).
 
Hier der Original-Kommentar:
 
„Seine Stufendynamik lädt mich dazu ein, die Intensität und Energie meiner Schritte variabel zu gestalten. Die Geige verführt mich, mit ihr zusammen inne zuhalten, während der Rhythmus weitergeht, bis ich wieder mit der Geige lostanzen möchte. Es sei denn, die Tanzpartnerin macht den subtilen Vorschlag doch schon in den Rhythmus einzusteigen. Es gibt Accelerandi, es gibt Ritardandi. Außerdem findet man hier auch die berühmt-berüchtigten Synkopen welche oft als Garant für anspruchsvolle Musik dargestellt werden. Ich meine sogar in den Sechzehnteln so etwas wie Mikrosynkopen zu vernehmen."

Nachdem ich mir (gegen den ausdrücklichen Rat meines Psychotherapeuten) die Version des Studioorchesters der Plattenfirma Victor nun einige Dutzend Male angehört habe, muss ich gestehen: Doch ja – da ist was dran. Man muss sich lediglich von einem Experten sagen lassen, was man hören soll. Diese Erkenntnis hat nun mein Kunstverständnis revolutioniert.

Damit ich die sattsam bekannten Musikdebatten im Tango nicht weiter befeuere, habe ich mich dem deutschen Liedgesang zugewandt und mich durch Beispiele des „Lindenbaum“ aus Wilhelm Müllers und Friedrich Silchers „Winterreise“, vertont von Franz Schubert, gearbeitet.
  
Hören wir zunächst eine Version, die beim Laienpublikum aus nicht ganz verständlichen Gründen immer wieder gut ankommt:

https://www.youtube.com/watch?v=jyxMMg6bxrg

Nach meinem (inzwischen Tangoexperten-geschultem) Geschmack wirkt die Darbietung elitär-abgehoben, was sich schon an der affigen Abendkleidung der Akteure (die Herren Brendel sowie Fischer-Dingsbums) zeigt – weiß doch jeder rechtgläubige Tangotänzer, dass man auf Außenwirkung völlig verzichten sollte. Das Timbre des Sängers gerät zeitweise schwülstig, die Variationen der Tempi unnötig aufgesetzt und kaum tanzbar, die Lautstärke unregelmäßig.

Zudem beschreibt ja wohl der Text eine ländliche Naturszene und mutet durch den Transfer in eine opulente Studioatmosphäre unglaubwürdig an. 

Ganz anders im zweiten Beispiel: Hier ist schon einmal der Personalaufwand um 50 Prozent reduziert. Weiterhin bekommen wir zunächst eine Einführung in das Werk, während die Akteure in der ersten Variante wohl arrogant davon ausgehen, dass jeder das Stück kenne. Insbesondere lässt aufhorchen, dass die „Winterreise“ eher zum Herbst passe.
Auf jeden Fall wirkt der Sänger freundlich zugewandt und kleidungsmäßig leger, was ja auch weit besser zu den Naturmotiven im Text passt. Die Dekoration ist schlicht und glaubwürdig, vermittelt aber durch den Funkengenerator im Hintergrund durchaus Spannung.
Der Vortrag schließlich gerät eingängig, frei von pathetischem Schwulst und ist von gleichbleibendem Rhythmus, was die Aufnahme bestens tanzbar macht:


 
Bevor nun selbst meine Fans vermuten, ist sei völlig verrückt geworden: Nein, war reine Satire! Selbstredend liegt zwischen dem Bänkelsänger und dem legendären Duo Dietrich Fischer-Dieskau und Alfred Brendel mindestens der Abstand wie zwischen OTV und D’Arienzo.

Allerdings muss ich mir solche Argumentationen seit Jahren anhören: Lobt man das elaborierte Arrangement eines (oft modernen) Tangoensembles, so heißt es zunächst: Ja, tolle Konzertmusik, aber nix zum Tanzen: Weist man das Gegenteil nach, wird man belehrt, man höre die feinen Nuancen der historischen Rauschgold-Versionen halt nicht. Die seien ja viel interessanter.

Ja klar – „Des Kaisers neue Kleider“ lassen grüßen: Nur Kluge können sie sehen…

Man kann dem werten Publikum gequirlten Mist also durchaus als hohe Kunst verkaufen – falls man mit der „Experten-Mimikry“ arbeitet und Ungläubigen notfalls unterstellt, sie wären halt zu blöd, den ästhetischen Anspruch zu kapieren. Und wenn das Produkt dann noch aus fernen Ländern stammt, kann Otto Normalverbraucher eh nicht mitreden – sind ja fremde Kulturen, welche sich nur weitgereisten Propheten erschließen.

In der legendären Kabarett-Nummer „Hurz“ haben uns Hape Kerkeling und Achim Hagemann dies glänzend bewiesen, indem sie „echtes“ Publikum mit tränentreibendem musikalischem Schwachsinn traktierten – und dafür anfangs sogar Applaus erhielten und ernst genommen wurden. Sie haben die Situation aber rasch aufgelöst. Im Tango dauert die Verarsche nun schon viele Jahre…

Übrigens kommen die Lacher aus dem Studiopublikum der preisgekrönten Sendefolge „Total normal“ – die Konzertbesucher blieben weitgehend ernst:

https://www.youtube.com/watch?v=MJ7jbQJXF68

 P.S.Mich kostete die Suche nach einer „Trash-Version“ des „Lindenbaums“ eine geschlagene Stunde. Wie traditionelle Tango-DJs eine ganze Playlist dieser Art in viel kürzerer Zeit hinbekommen, ist mir weiterhin ein Rätsel. 

In diesem Sinne: Hurz!  

Kommentare

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