Bandoneon und Gänsehaut

Das „dunkelviolette“ Duo Tango Amoratado gibt es mehr als 15 Jahre – so lange schon treten Fabian Klentzke und Jürgen Karthe miteinander auf. Ich erlebte sie ziemlich am Anfang ihrer Karriere auf einer Regensburger Milonga – und seither alle paar Jahre wieder, wenn sie in unserer Nähe musizieren.

Fabian Klentzke stammt aus Halle/Saale und studierte Oboe und Klavier. Sein Partner Jürgen Karthe wechselte 1994 vom Akkordeon zum Bandoneon, welches er zunächst im Selbststudium, später bei berühmten Lehrern wie Nestor Marconi erlernte.

Derzeit touren sie mit einem außergewöhnliche Programm, welches der „Nummer 1“ aller Tangoinstrumente gewidmet ist – dem Bandoneon: „Vom Erzgebirge nach Buenos Aires wie der Tango zu seinem Instrument kam“. Dieses erzählt (mit der Stimme von Fabian Klentzke) selber seine Geschichte, immer wieder begleitet von Jürgen Karthe solo oder im Duo mit seinem Pianisten.

Als „verlassenen Bengel, immer auf der Suche nach Liebe“, so beschreibt sich das Instrument selbst, begleitet von den Klängen des Tangos „Bandoneón arrabalero“ („Vorstadt-Bandoneon“, 1928) und dem Text von Pascual Contursi.

Es stammt wie der Tango von einfachen Leuten: Als im Erzgebirge um 1830 Bergbau und Hammerwerke unrentabel wurden, musste man in dem bitterarmen Landstrich eine neue Erwerbsquelle finden. So begannen grobe Kumpel- und Schmiedehände feine Instrumente zusammenzupfriemeln. In Carlsfeld entstand die erste Manufaktur für Handzuginstrumente, wie sie der Chemnitzer Friedrich Uhlig 1834 als „Konzertina“ erfunden und Heinrich Band in Krefeld 1948 zum „Bandonion“ ausgebaut hatte. Als der Fabrikbesitzer Carl Zimmermann 1864 nach Amerika auswanderte, übernahm sein Werkmeister Ernst Louis Arnold den Betrieb. Dessen Sohn schließlich, Alfred Arnold, baute dann die berühmten „Doble A’s“ (von den Argentiniern nach seinen Initialen benannt).

Bis heute spielt man am liebsten auf diesen Instrumenten, deren Klang als unvergleichlich gilt – sozusagen die „Stradivari“ in diesem Bereich. Über 30000 davon wurden bis 1945 nach Argentinien und Uruguay exportiert. 1948 wickelte dann das kommunistische Regime die Firma ab, die Konstruktionsunterlagen Alfred Arnolds sind verschollen – man wird sich weiterhin auf die alten Instrumente verlassen müssen…

Das Bandoneon ist ein verrücktes Teil aus Ahorn- oder Erlenholz, Ziegenleder, Pappe und metallischen Stimmzungen. Diese werden wie bei allen „Durchschlagzungen-Instrumenten“ durch die Luft aus dem Balg in Schwingungen versetzt. Noch dazu ist es wechseltönig: Auf Druck und Zug erklingen meist zwei verschiedene Töne.

Doch damit nicht genug: Bei den Vorläufern mit viel geringerem Stimmumfang ordnete man die Knöpfe noch halbwegs nach Tonhöhen an. Als man später den Tonumfang erweiterte, beließ man, um ein Umlernen zu vermeiden, diesen zentralen Bereich und fügte schrittweise neue Knöpfe ohne logisches System hinzu. Und da die einfachen Musiker früherer Zeiten eh kaum Noten lesen konnten, nummerierte man die Tasten einfach, sodass „Musik nach Zahlen“ (die so genannte „Wäscheleine“) entstand. Ein Bandoneonspieler muss also stets „vierspurig“ denken: linke Hand (tiefere Lagen) und rechte (mit den höheren Tönen), Druck und Zug. Daher – so heißt es in Musikerkreisen – müsse man verrückt sein, dieses Instrument erlernen zu wollen: Auf immerhin 142 Töne bringt es so das für den Tango verwendete „Bandoneon rheinischer Tonlage“.

Früher gab es in Deutschland eine umfangreiche Kultur von Bandoneon-Vereinen und Orchestern, die heute beinahe vergessen ist. Fast ausschließlich im Tango lebt das Instrument weiter.

Der Text des Programms, verfasst von Sylvie Kürsten, ist hervorragen gelungen: genau die richtige Mischung aus flapsigem Tonfall und anrührenden Passagen. Besonders bewegend wirkt es, wenn Fabian Klenzke zu den Melodien klassischer Tangos spanische und deutsche Textzitate einfügt, so zur Gefühlswelt der Auswanderer – ihrer Sehnsucht nach der alten Heimat und der Verzweiflung über geplatzte Träume:

Fue tu voz,
Bandoneón,
La que me confió
El dolor
Del fracaso
Que hay en tu gemir;
Voz que es fondo
De la vida oscura
Y sin perdón,
Del que soñó volar
Y arrastra su ilusión
Llorándola…

Es war deine Stimme,
Bandoneon,
die mir den Schmerz
des Scheiterns anvertraut hat.
Was ist in deinem Stöhnen?
Deine Stimme, die die Tiefe
des dunklen
und gnadenlosen Lebens
dessen ist, der vom Fliegen träumte,
aber seine Illusionen herumschleppt
und sie beweint...

(Enrique Santos Discépolo / Luis César Amadori: „Alma de bandoneón“ – „Seele des Bandoneon“, 1935)

Der letzte Abschnitt ist Astor Piazzolla gewidmet:

„Doch Astor war zu früh dran und deswegen ein Fisch gegen den Strom. Er hatte ein ganzes Land gegen sich – nicht tausende von Personen, nein – ein ganzes Land.“
„Da konnten die anderen konservativen Landsmänner meckern, wie sie wollten – für mich, den mittlerweile gut hundertjährigen Kasten war Astor ein Retter, ein Jungbrunnen, ein Übervater. Kein Totengräber des Tango, nicht dessen enfant terrible, wie die Traditionalisten ihn nannten – er war eher wie ich, ein enfant abandonné, ein verlassenes Kind, das in der Musik Halt suchte. (…) Er hat mich und den Tango – wortwörtlich – befreit.“

Kommen wir zur Musik: Schon als am Anfang die wunderschöne Piazzolla-Ballade „Ausencias“ erklang, waren wir wie verzaubert. Es ist unglaublich, wie präzise und dennoch sentimental man spielen kann. Karthe und Klentzke verstehen sich blind und holen auch aus den alten Stücken Wucht, Dynamik sowie unglaubliche Zartheit heraus – und das in stetem Wechsel. Ich hatte nicht geglaubt, dass man tausendmal abgenudelte Titel wie „Bahia Blanca“ derartig spannend gestalten kann!

Ein absolutes Gänsehaut-Erlebnis, wenn sie zum Schluss „Adiós Nonino“ oder (wie auf der CD) Piazzollas Liebeserklärung an Aníbal Troilo erklingt: „El Gordo triste“ – „der traurige Dicke“ (Troilo nannte seinen Kollegen Astor im Gegenzug „El Gato“ – „der Kater“).

Musik aus einer anderen Welt! Ich bitte um Verständnis, dass ich nach dem Schlussapplaus zunächst fluchtartig den Saal verließ, bevor wir wieder mit den bewährten EdO-Hits gepeinigt wurden – ich hätte es in dem Moment nicht ertragen! Apropos: Später am Abend spielte das Duo Amoratado dann noch zum Tanz – schön, aber seltsam reduziert. Wurde hier den vielfach publizierten „Tanzbarkeits-Vorstellungen“ Rechnung getragen? Schade, das haben die beiden wirklich nicht nötig…

Das Bandoneon als Kind des Erzgebirges, das durch Auswanderer in die Neue Welt gelangte… das sagt mir auch persönlich etwas: Mein Familie gehört ja ebenfalls zu den „Migranten“, da sie nach dem 2. Weltkrieg aus dem Sudetenland vertrieben wurde. In ihrer Heimatstadt, Graslitz im heutigen Tschechien, wurden ebenfalls Musikinstrumente gebaut. Und von dort aus sind es gut 30 km nach Carlsfeld in Sachsen. Und der Sohn entdeckte in schon höherem Alter im Tango die Quetsche aus der alten Heimat…

Auf jeden Fall kann ich das Programm nur empfehlen. Heute ist es noch in Regensburg zu sehen: http://www.tangoimfluss.de/taflu02.htm

Die weiteren Termine findet man hier: http://www.tango-amoratado.com/konzerte/

Ansonsten kann man das Ganze auch als CD genießen:

Und zur Appetitanregung ein Video:


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