Der Kampf ums Neue: Alles schon mal dagewesen…
„Seit 1940 bis heute hatte ich die
schrecklichsten Probleme, nur wegen einer Volksmusik namens Tango...”
(Astor Piazzolla, 1921-1992)
(Astor Piazzolla, 1921-1992)
Es gab
Jahre, in denen konnte sich der Schöpfer des Tango nuevo in Buenos Aires nicht
auf die Straße trauen. Er musste tätliche Angriffe befürchten, seine Familie
war in Gefahr, man trachtete ihm nach dem Leben. Diese Aggression ging aus von
orthodoxen Tango-Musikern und -Aficionados. Piazzolla kam in deren Augen einem
Hochverräter gleich. Nach seinen Triumphen in Europa und Nordamerika schloss
man schließlich auch in seiner Heimat Frieden mit ihm: Seine Oper „María de Buenos Aires“ steht
mittlerweile unter der Schirmherrschaft des argentinischen Kulturministeriums.
Bis zu den
deutschen Milongaveranstaltern scheint sich das noch nicht herumgesprochen zu
haben: Dort treibt man inzwischen eine Leichenfledderei zweiten Grades: Piazzollas
Musik sei zwar künstlerisch wertvoll, jedoch nicht „tanzbar“. (Für wen, fügt
man vorsichtshalber nie hinzu…)
Schaut man
sich einmal in der Kunstgeschichte um, so ist ein solches Schema allerdings
eher die Regel denn die Ausnahme. Fast jeder, der es wagte, einen neuen Stil zu kreieren, bekam es mit
den Betonköpfen und ihren drei
ungeschriebenen Grundgesetzartikeln zu tun:
1.
Das haben wir schon immer so gemacht.
2.
Das haben wir noch nie so gemacht.
3.
Da könnte ja jeder kommen!
Bei meinen
Recherchen (mit großer Hilfe meiner künstlerisch bewanderten Ehefrau) war
ich geradezu entsetzt, wen das schon alles traf! Einige Beispiele:
Claudio Monteverdi
(1567-1643)
Er ersetzte
die „prima pratica“ (das bisherige
polyphone Ideal des 16. Jahrhunderts mit seinem fließenden Kontrapunkt, d.h. der
Gleichwertigkeit der Stimmen) durch die „seconda
pratica“, den neuen „monodischen Stil“,
der die solistische Gesangsstimme hervorhebt und die akkordische Begleitung
dazusetzt. Der Gesang
macht die Textverständlichkeit und den Textsinn zur Hauptsache. (Wie war das
nochmal mit gewissen alten Tangoorchestern und ihren Unisono-Geschrammel?) Monteverdis Konkurrent Giovanni M. Artusi griff ihn darob scharf an, wobei er sich
allerdings weigerte, dessen Namen offen zu nennen. (Woher kenne ich das nur?) Die
konservativen Werke Artusis sind
heute ziemlich von der Bildfläche verschwunden – Monteverdi hingegen ist eine feste Größe in der
E-Musik!
Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Ab 1703 war
Bach als Geiger und Organist in Leipzig und Arnstadt tätig und bekam öfters
Ärger mit seinen kirchlichen Arbeitgebern: Er habe die Gemeinde mit „wunderlichen variationes“ und „frembden
Tönen“ in seinem Orgelspiel „confundieret“
– also bei der religiösen Andacht gestört. (Wie war das gleich mit der modernen
Tangomusik, welche nach Ansicht gewisser Kreise eine „schreckliche Unruhe“ auf der Tanzfläche bewirkt?) Bach tat das
einzig Richtige und verließ diese Wirkungsstätten. Seiner späteren Karriere als Kantor in Leipzig tat dies keinen Abbruch. Bachs Werk geriet nach seinem Tod aber ziemlich schnell in Vergessenheit. Erst zirka 80 Jahre später wurde es durch Felix Mendelssohn Bartholdy "wiederentdeckt". So richtig populär wurde Bach erst im 20. Jahrhundert. (Da haben Piazzolla oder Mores ja noch viel Zeit...)
Niccoló Paganini
(1782-1840)
Den
„Teufelsgeiger“ beurteilten nicht alle Kollegen positiv. So schrieb Luis Spohr 1830: „In seinen Kompositionen und seinem Vortrag ist aber eine so sonderbare
Mischung von höchst Genialem und Kindischem und Geschmacklosem, weshalb man
sich abwechselnd angezogen und abgestoßen fühlt.“ Viele weitere für den öffentlichen Auftritt komponierte Werke, die
Paganini großen Ruhm einbrachten, sind erst später, oft erst im 20.
Jahrhundert oder bisher noch nicht veröffentlicht worden.
Auch
David Garrett, der 2013 in der
Verfilmung des Lebenswerks Paganinis die Titelrolle übernahm, bekam von der „Berliner Morgenpost“ sein Fett ab: „… die anderen
Schauspieler wurden wohl angewiesen, schwächer zu spielen, um den armen Garrett
nicht so traurig aussehen zu lassen.“ Ach, und ich dachte, man hätte Garrett für diesen Film
als Geiger engagiert…
Pjotr Iljitsch
Tschaikowsky (1840-1893)
Der
Geiger Leopold Auer lehnte es ab, die
Uraufführung von Tschaikowskys
Violinkonzert zu übernehmen, da er es für „unviolinistisch“
und „unspielbar“ hielt. So kam es
erst zwei Jahre später (1881) zur Vorstellung des Werkes durch die Wiener
Philharmoniker; es hagelte negative Besprechungen:
Den einflussreichen Musikkritiker Eduard Hanslick erinnerte das Konzert an „die brutale und traurige Lustigkeit eines russischen Kirchweihfestes“ sowie an „lauter wüste und gemeine Gesichter“ und „rohe Flüche“; er meinte über das Werk, es bringe „uns auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“. Auer jedoch änderte später seine Meinung und wurde ein großer Befürworter des Violinkonzerts, das heute zum festen Repertoire der ernsten Musik zählt.
Den einflussreichen Musikkritiker Eduard Hanslick erinnerte das Konzert an „die brutale und traurige Lustigkeit eines russischen Kirchweihfestes“ sowie an „lauter wüste und gemeine Gesichter“ und „rohe Flüche“; er meinte über das Werk, es bringe „uns auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“. Auer jedoch änderte später seine Meinung und wurde ein großer Befürworter des Violinkonzerts, das heute zum festen Repertoire der ernsten Musik zählt.
Igor Stravinsky (1882-1971)
Nach
seinen spätromantisch-impressionistischen Balletten „Petruschka“ und „Der
Feuervogel“ verkörperte „Le sacre du printemps“
einen explosiven, atonalen Stil. Die Uraufführung in Paris 1913 geriet zu einem
der größten Theaterskandale überhaupt.
Nach
der Generalprobe war ein Großteil des Publikums in der festen Absicht
erschienen, sich zu empören. Jean Cocteau berichtete
dazu: „Bei der Uraufführung
des Sacre spielte das Publikum die Rolle, die ihm zugedacht war: Es revoltierte
von Anfang an. Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach, und
vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge
der Ästheten und Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum
beleidigt, ja tätlich angegriffen hätte. Der Tumult artete in einem Handgemenge
aus.“
Nur den Nerven des Dirigenten und der
Intervention des Intendanten ist es zu verdanken, dass man Musik und Tanz überhaupt
zu Ende brachte. Der Kritiker des „Figaro“,
Alfred Capus, brachte auf den Punkt,
worum es offensichtlich ging: „Die
Russen, die nicht besonders vertraut mit dem Anstand und den Gepflogenheiten
der Länder sind, die sie besuchen, wussten nicht, dass die Franzosen ohne
weiteres anfangen zu protestieren, wenn die Dummheit ihren Tiefstpunkt erreicht
hat.“
Immerhin
brachte der Skandal Stravinsky seinen ersten Artikel in der New York Times ein und festigte seinen
Ruhm als Komponisten.
Richard Strauss
(1864-1949)
Sein
Musikdrama „Salome“ missfiel nicht nur Kaiser Wilhelm II., sondern auch
Publikum und Kritik: Es sei von „unsittlicher
Thematik“. Das zugrunde liegende Schauspiel von Oscar Wilde war bereits 1882 in London verboten worden und konnte
erst viele Jahre danach aufgeführt werden.
Das Werk wurde 1905 an der Dresdner Hofoper uraufgeführt. Eine gleichzeitige Darbietung an der Wiener Staatsoper wurde jedoch von der Zensur vereitelt. So schrieb Dr. Emil Jettel von Ettenbach, seines Zeichens "Hofzensor": „… abgesehen von mehr textuellen Bedenken kann ich über das Abstoßende des ganzen Sujets nicht hinaus und kann nur wiederholen: Die Darstellung von Vorgängen, die in das Gebiet der Sexualpathologie gehören, eignet sich nicht für unsere Hofbühne.“
Dennoch (oder deshalb?) bedeutete „Salome“ für den Komponisten den internationalen Durchbruch.
Das Werk wurde 1905 an der Dresdner Hofoper uraufgeführt. Eine gleichzeitige Darbietung an der Wiener Staatsoper wurde jedoch von der Zensur vereitelt. So schrieb Dr. Emil Jettel von Ettenbach, seines Zeichens "Hofzensor": „… abgesehen von mehr textuellen Bedenken kann ich über das Abstoßende des ganzen Sujets nicht hinaus und kann nur wiederholen: Die Darstellung von Vorgängen, die in das Gebiet der Sexualpathologie gehören, eignet sich nicht für unsere Hofbühne.“
Dennoch (oder deshalb?) bedeutete „Salome“ für den Komponisten den internationalen Durchbruch.
Paris
war auch für die Oper „Tannhäuser“
ein schlechtes Pflaster. Bei der dortigen Premiere 1861 inszenierte der einflussreiche
aristokratische Jockey Club einen veritablen
„Shitstorm“ gegen Wagners Oper und verteilte sogar silberne Trillerpfeifen mit
der Aufschrift „Pour Tannhäuser“.
Nach drei Aufführungen im Dauer-Störfeuer zog der Komponist seine Oper zurück.
Und warum der ganze Trubel? In der Pariser Oper wurde
damals regelmäßig ein Ballett erwartet. Dem fügte sich Wagner, stellte die
Tanzszene aber ans Ende des ersten Akts und nicht – wie üblich – in den zweiten
Teil. Dies missfiel den Herren des Adels, die während des ersten Akts noch zu
dinieren pflegten und sich danach das Ballett ansehen wollten, um sich daraufhin
„hinter die Kulissen zu näherem
Verkehr mit den springenden Nymphen“ zu begeben. Daher ging Wagner wohl den „Herrenreitern“ gegen den Strich!
Nun
habe ich ja in einem Tanzforum gelesen, man habe auf traditionellen Milongas
schon absichtlich die Tanzfläche verkleinert, um besser „kuscheln“
(Entschuldigung: „umarmungsfokussiert
tanzen“) zu können – aber ich will da nicht Äpfel mit (weichen) Birnen
vergleichen…
Auch in der dramatischen
Kunst begegnen uns immer wieder Anfeindungen der übelsten Sorte: Ob es nun Jean-Baptiste
Poquelin („Molière“) war, der in seiner
Komödie „Tartuffe“ bereits vor fast
250 Jahren die heutige Kunstfigur des „Cassiel“
so trefflich beschrieb und sogar mit dem Scheiterhaufen bedroht wurde, Schillers „Räuber“, die bei der Uraufführung 1782 in Mannheim als Aufruf zur
Rebellion betrachtet wurden, oder das erste Drama des Naturalismus, "Vor Sonnenaufgang", in dem Gerhart Hauptmann es wagte, soziales Elend zu thematisieren – das Strickmuster ist stets dasselbe: Das Neue
wird verteufelt und nicht etwa als notwendige Weiterentwicklung des
Althergebrachten gesehen. Und auch das Hauptargument ist nicht sehr
wandlungsfähig: Im Gegensatz zur bisherigen „Kunst“ sei dieses eben
minderwertig oder gar gefährlich (so wie eine Tanda Otros Aires inmitten der
klassischen Tangomusik...).
Dass
es auch anders geht, habe ich gestern erleben dürfen. Da wurde auf einer
Milonga (ja, es war die von Alfredo) eines der ältesten Tangoorchester mit
seinen schönsten Einspielungen vorgestellt: Roberto Firpo. Und kaum eine halbe Stunde später erklangen – wie selbstverständlich
– Piazzollas Meisterwerke „Libertango“
und „Verano porteno“. Auf der Heimfahrt fiel mir dazu ein Satz ein, den ich
neulich irgendwo gelesen habe:
„Wir können nur deshalb so weit sehen, weil wir auf den Schultern
derjenigen stehen, die vor uns waren.“
Ebenso großartige wie überraschende Zusammenstellung! Hier noch ein Beispiel: Bizets Oper "Carmen" war bei der Uraufführung am 3. März 1875 in der Opéra-Comique in Paris ein Misserfolg. Grund: Die Hauptperson war nicht, wie bisher üblich, mit einem Sopran besetzt, sondern mit einem Mezzosopran. Wie kann man nur! Erst die Wiener machten diese Opern zu dem Erfolg, den sie bis heute genießt.
AntwortenLöschenUnd ich habe ein typisch österreichisches Beispiel vergessen: den Wiener Walzer. Der galt ja auch wegen der sichtbar werdenen Knöchel der Tänzerinnen inklusive des "Schwindlig-Drehens" als sittlich verwerflich!
LöschenNun hat mir meine gebildete Ehefrau noch den Text einer Rede unseres geliebten, leider in Holland bestatteten Kaisers Wilhelm II. gezeigt, welche dieser 1901 bei einer Denkmalsenthüllung vom Stapel ließ:
Löschen"Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr (...) Mit dem viel missbrauchten Wort 'Freiheit' und unter seiner Flagge verfällt man gar oft in Grenzenlosigkeit, Schrankenlosigkeit, Selbstüberhebung. (...) Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt man sich damit am deutschen Volke."
Willem zwo hat übrigens testamentarisch verfügt, dass seine Gebeine erst dann in deutsche Erde umzubetten sind, wenn hierzulande die Monarchie wieder eingeführt ist. Ich fürchte, man wird in den Niederlanden mit den alten Knochen leben müssen...