Stille Tangonacht
„Im übrigen ist der Mensch ein
Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht und seinen Hund bellen lässt.
Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann ist er tot.“
(Kurt Tucholsky)
Ich hatte von
„stillen Milongas“ schon öfters gelesen, aber bisher noch keine Gelegenheit
gehabt, eine solche zu besuchen. Kürzlich konnte ich auch dieses
Erfahrungsdefizit beseitigen.
Ein
Tangoabend, bei dem niemand spricht, die Musik daher voll wirken kann, ohne das
branchenübliche schrille Gegacker exaltierter „Tangosociety-Ladies“, welche
eine Freundin stets so charakterisiert: „Die
reden doch nur, damit die Luft scheppert!“ – wahrlich eine traumhafte
Aussicht!
Klar, dass
ich mir dies nicht entgehen ließ. Bereits an der Eingangstür zur Milonga machte
uns auf einem Plakat ein weißbebarteter alter Herr mit Finger vor dem Mund auf
das Schweigegelübde aufmerksam. Zudem ging es ja schon auf den „traurigen Monat November“ zu, in dem
laut Heinrich Heines „Wintermärchen“ „die
Tage trüber“ werden – wie passend!
Obwohl wir
also kurz vor Allerheiligen standen, waren etliche von ihnen nicht da – sprich,
diverse Zentralfiguren der dortigen Szene hatten sich wohl andernorts eine
Redezeit genehmigt. Und das, obwohl ein hundertprozentig traditionelles
Musikprogramm (zur erstrebten Trauerstimmung sogar besonders meditativ
ausgelegt) ihren Geschmack sicherlich bestens getroffen sowie ihre tänzerischen
Fähigkeiten nicht überfordert hätte! Aber wahrscheinlich kommen wir nicht um
das Balzverhalten der Singvögel herum, bei dem ja zur Sicherung der Rangordnung
die Farbreize des Gefieders noch vom schmetternden Gesang (hier allerdings der
Männchen) komplettiert werden müssen.
Auffallend
war ferner, dass auf dieser Milonga ein leichter Männerüberschuss herrschte,
was natürlich wieder alle Macho-Vorurteile hinsichtlich der verbalen
Überlegenheit des weiblichen Geschlechts zu bestätigen scheint. Obwohl diese
Einzelbeobachtung selbstredend statistisch nicht abgesichert ist, wage ich
schon die Vermutung, dass die Herren der Schöpfung in diesen Abendstunden ihre
durchschnittlich fünfhundert Wörter pro Tag bereits aufgebraucht hatten, während
die Damen für den Rest des zehnfachen Vokabulars noch dringend
Abnehmer suchten.
Und – wurde
tatsächlich nicht gesprochen? I wo! Nun ist es natürlich schwierig, die
Information „Schatz, ich kann jetzt nicht
mit dir tanzen, der Mann dort hinten hat mich gerade aufgefordert“ in Mimik
und Gestik umzusetzen. Dennoch entging meinem geübten Pädagogenauge nicht, dass
etliche Anwesende „Schweigen“ chronisch mit „leisem Reden“ verwechselten, wobei
erstaunlicherweise die Gespräche im paarweisen Kontakt mit dem anderen
Geschlecht dominierten. Offenbar kann das passende weibliche Beuteschema beim
männlichen Gegenüber Vokabular-Reserven aktivieren, die eigentlich erst für die
kommenden Tage oder Wochen vorgesehen sind. Aber schon das im Titel zitierte
Weihnachtslied belehrt uns ja, dass rundum (ob der gebotenen Klänge) alles
schläft, natürlich außer dem einsam wachenden „trauten, holdseligen Paar“…
Erstaunlich,
dass sich selbst „Tangolehrer“ von eigenen Gnaden dem Trend zur
Partnerbeschallung (sogar während des Tanzes) nicht entziehen können, obwohl
doch der Unterricht in diesem Metier hierzulande ein Höchstmaß an Disziplin und
die Beachtung allfälliger Regeln voraussetzt.
Aber vielleicht muss man den ab einem gewissen Alter essentiellen Tatbestand
der Inkontinenz nicht nur den ableitenden Harnwegen, sondern ebenso den
aufsteigenden Luftwegen zuordnen.
Dem auf den
schulischen Sitzplänen gemeinhin „Pult“ genannten Experten konnte es auch nicht
entgehen, dass sich – wie in jedem Klassenzimmer – die Unruhe eher auf den
hinteren Bänken breitmachte. Dies bestätigt wieder einmal die Vermutung, dass es
sich bei der Pubertät nicht um eine zeitliche menschliche Entwicklungsphase
handelt, sondern um die Diagnose einer Persönlichkeitsstruktur. Die Störungen
abstellen könnte man wohl auch hier nur durch negative Verstärkung, sprich
Strafen – im Tangozusammenhang vielleicht: „Wer
noch einmal schwätzt, muss Piazzollas ‚Libertango’ allein vortanzen!“ –
oder wahlweise, je nach Interessenlage: „Dann
leg’ ich halt jetzt nur noch Canaro auf.“
Insgesamt
bestätigte sich wieder einmal, dass die heutige Tangopopulation eben vor allem
kopf- und nicht emotionsgesteuert ist. Während für intuitive, gefühlsbetonte
Signale die unteren Gehirnregionen zuständig wären, dominiert bei den
„Schritteanwendern“ die Großhirnrinde, und in der sitzt nun mal das Sprachzentrum.
Blicke, Gesten oder gar Berührungen werden vom „Regierungssprecher“ im obersten
Dachbereich gnadenlos per Verlesung des vorbereiteten Kommuniques zugedröhnt.
Bringt eine
solche „stille Milonga“ eine neue Qualität des Miteinanders? Darüber müssten
wir nochmal ausführlich reden – und ich fürchte, das wird auch geschehen.
Immerhin ist sie eine weniger vernichtende Alternative zur Möglichkeit, die der
Kabarettist Georg Schramm einmal so beschrieben hat: „Man kann doch nicht jede Woche einen Wolkenkratzer einäschern, nur
damit diese Spaßgesellschaft einmal die Klappe hält!“ Das entscheidende Problem einer solchen
Veranstaltung besteht für mich aber darin, dass die Musik besser zu hören ist –
und das kann sich durchaus verheerend auswirken…
Gestern war ich wieder da: Mei', war's da still, wie schön - obwohl's eine ganz normale Milonga (übrigens mit toller Musik) war. Na also - muss man denn immer erst böse werden?
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