Piazzolla und die "Tanzbarkeit"



Gestern fand ich auf einem anderen Tangoblog einen Beitrag unter dem Pseudonym „Freebornman“, den ich hundertprozentig unterschreiben kann. Da ich finde, dass der Text für obiges Forum allein viel zu schade ist, erlaube ich mir, ihn nachfolgend wiederzugeben.
Ob man per Decknamen einen Copyright-Anspruch etablieren kann, weiß ich nicht. Der Verfasser kann sich aber gerne – unter Klarnamen – bei mir melden, falls er mit der Übernahme hier nicht einverstanden ist. Ich würde den Eintrag dann sofort löschen. Brillant allerdings bleibt er auf alle Fälle!

„Für mich ist Piazzolla der bedeutendste Tangomusiker des 20. Jahrhunderts – und darüber hinaus (da beißen auch Carlos Gardel und Annibal Troilo gemeinsam keinen Faden ab). Aber wir haben ihn ziehen lassen in die Konzertsäle oder zu niederländischen Königshochzeiten. Untanzbar! Das Etikett haftet Piazzolla an, seit die Hohepriester der Orthodoxie in Buenos Aires den jungen Wilden Ende in den 50-er Jahren als Ketzer gebrandmarkt haben.

Astor P. ist aus einer Welt ausgebrochen, in der er als Tanzmusiker immer wieder dieselben Hits live runternudeln sollte, deren knarzende Konserven wir heute verehren. Und der Mann hat immerhin für Anibal Troilo gearbeitet! Zu seiner Musik aus dieser Zeit tanzen wir sogar, in der Regel ohne es zu wissen. Denn da war der junge Astor nur Ensemblemitglied und Arrangeur – nicht die Weltmarke Piazzolla. Der alte Meister hat dem jungen Meister in spe damals Grenzen für seine Experimentierfreude gesetzt – nach seinem Begriff von ‚Tanzbarkeit’ am Ende der goldenen Zeiten.

Piazzollas Antwort waren sein Ausstieg aus der Tanzmusikszene und die 'Zehn Gebote' seines ‚Octeto de Buenos Aires’, deren siebentes lautet: ‚Wenn das Ensemble in der Öffentlichkeit zu hören ist, wird es nicht auf Tanzveranstaltungen spielen.’ Insofern trägt er Mitschuld am Klischee der Untanzbarkeit. Aber hatte er lebenslang etwas dagegen, dass zu seiner Musik getanzt wurde? Seine Witwe Laura Escalada Piazzolla erinnert sich anders: ‚Astor sagte eines Tages zu mir: Ich verstehe das nicht, hier in Argentinien behaupten sie, man kann zu meiner Musik nicht tanzen, aber auf der ganzen Welt tun es alle.’

Zugegeben, dieser Tanz fand zunächst auf der Bühne statt. Aber was die Profis von Ballett und Show für sich erobert haben, ist in vereinfachter ‚Volksausgabe’  doch für die ‚Pista’ der Amateure zu kapern. Wir sind Piazzolla den Tanz schuldig. Denn ohne den Siegeszug seiner Musik in den Konzertsälen und die Broadway tauglichen Shows von Juan Carlos Copes und Co. in den 80er Jahren würden die selbst Orthodoxen von heute (wenn überhaupt) Discofox tanzen, weil sie vom Tango nichts gehört hätten.

Wer aktuellen Tangoformationen zuhört, die ganz selbstverständlich zum Tanz spielen, wird schnell feststellen: Fast überall sind - ob in Harmonien, Rhythmik oder Phrasierung - Piazollas ‚Spuren’ deutlich wahrnehmbar. Ist es schlimm, wenn die musikalisch gebildeteren unter uns beim Tanzen Anklänge an Bela Bartok, Igor Stravinski oder den Jazz der klassischen Moderne wahrnehmen? Mich stört auch nicht, wenn ein Vals von Francisco Canaro mich an Johann Strauß erinnert.

Und überhaupt, was heißt ‚tanzbar’? Haben die Fans der ‚Epoca d'oro’ einen ungefähren Begriff davon, wie die goldigen Herrschaften im Buenos Aires der 1940er Jahre sich über das Parkett bewegt haben? Nach allem, was ich darüber gelesen habe, blieben die Füße weitgehend am Boden – nix mit Boleos, Ganchos & Co. Wer Piazzolla verschmäht, sollte sich mindestens die Hälfte seiner teuer erkauften Figuren verkneifen, will er zu „klassischer“ Musik wirklich klassisch tanzen.

Die Scheu vor Piazzollas Musik hängt meiner Meinung nach auch mit der falschen Unterstellung zusammen, zu ‚komplizierter’ Musik müsse man kompliziert tanzen. Wer es kann, darf, aber er/sie muss es nicht. Auch ausladende Neo-Figuren sind nicht nötig. Nur gutes Zuhören. Was für eine wunderbare Erfahrung, sich in so ein komplexes Stück langsam, aber immer sicherer gemeinsam hinein zu tasten. Wenn wir dann den sprichwörtlichen ‚Flow’ finden - der pure Traum, mag auch die persönliche Choreografie zunächst noch unterkomplex sein. Ich weiß in solchen Momente sowieso nicht mehr, welche Schritte oder Kombinationen ich tanze. Ich spüre nur die Symbiose zwischen der Musik, meiner Partnerin und mir. ‚Die Musik führt mich’, hat der alte Milonguero Tete Rusconi gesagt. Vom Metronom war nicht die Rede.“

Kommentare

  1. “…….Vergiss nicht, dass Piazzolla es gehasst hat, wenn die Leute zu seiner Musik tanzen.” (Christian TOBLER, 31. März 2013 16:01, Blog Cassiel, Kommentare zur Antwort auf den Artikel in TD)

    “Also sagte Astor eines Tages zu mir: ‘Ich verstehe das nicht, in Argentinien heißt es, man kann zu meiner Musik nicht tanzen, und hier tanzen alle zu meiner Musik!” (Laura Escalada Piazzolla)

    “In Argentinien kannst du alles angreifen, nur nicht den Tango, sagt Laura Escalada Piazzolla. “Du kannst die Mutter angreifen, aber nicht den Tango! Das ist wahr, man konnte den Tango nicht angreifen, das änderte sich dadurch, dass die Jugend ihn hörte. Der Jugend verdankt Astor seinen großen Erfolg; den klassischen Balletttänzern, die seine Musik auswählten, den Tänzern, die jetzt auf der ganzen Welt zu Astors Musik tanzen, und den Leuten, die daran gewöhnt sind, andere Art von Musik zu hören und die den Tango nicht als sakrosanktes Eigentum der Hauptstadt betrachten.”

    „Und auch die konservative Einstellung der legendären “Tangueros”, der eingefleischten Tangotänzer von Buenos Aires, stellt sie infrage.“

    “Für ihn war es eine einzige Periode, denn er war seiner Zeit voraus, oder vielmehr: Für ihn waren das keine Perioden, es war sein Leben”, so Laura Escalada Piazzolla. “Er war seiner Zeit voraus, und er sagte auch immer: ‘Ich schreibe für die jungen Leute.’ Und er hatte recht.”

    Laura Escalada Piazzolla, http://oe1.orf.at/artikel/275066

    Peter Baumgarner 00436763253801

    A-4802 Traunkirchen, Hofhalt 9

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    1. Man darf ja nicht vergessen, dass Piazzolla von der damaligen, älteren Tänzergeneration in Argentinien heftig abgelehnt wurde. Seine Kompositionen seien kein Tango (war also alles schon mal da).Es war wohl eine Trotzreaktion von ihm, dort nicht auf Milongas spielen zu wollen. Vielleicht hat er sich auch angesichts der tänzerischen Fähigkeiten dieser Population gedacht: "Also, die können auf meine Musik nicht tanzen!

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  2. Wie ich gestern vom Autor erfahren habe, ist der Text von Thomas Kröter.

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    1. Eine überarbeitete Version dieses Artikels findet sich nun auch in der Zeitschrift "Tangodanza" (Ausgabe 4/2014, S. 80-81). Wie gesagt: brillant.

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  3. Robert Wachinger11. Mai 2016 um 23:05

    Ich unterschreibe den Text zu 100% mit.

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    1. Auf "Wikipedia" habe ich einmal die Aussage gefunden, Argentinien habe kulturell zwei Weltstars hervorgebracht: Gardel und Piazzolla.

      Das Gemeinsame an ihnen ist: Sie werden bei uns auf den üblichen Milongas nicht gespielt.

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