Ein „Lagerhäusle“ für die Tangovielfalt
Vor ein paar Jahren waren
wir, auf einer „Milonga-Erkundungsreise“ in der Bodensee-Region, schon einmal
da – und es war so schön gewesen, dass wir damals beschlossen, bald wieder zu
kommen. Allerdings ist die Anreise für uns ziemlich umständlich, liegt das „Lagerhäusle“ doch mitten im
„Nirgendwo“, nur auf weiten und verschlungenen Wegen erreichbar, in der
wunderbaren Landschaft Oberschwabens – oder, wie Harald Schmidt diese öfters
nannte: „im Lande des Pietkong“. Und
dort sollen sich Tangoträume verwirklichen – gewissermaßen in „Kleinbonum“, und nicht auf notablen
Schlössern und Festivals im umgebenden „römisch-orthodoxen Reich“? Verrückt,
aber wahr!
Gestern haben wir endlich,
nach einigen Jahren nicht so bald wie erhofft, die fast 250 Kilometer über
schwäbische Barock- und andere Straßen überwunden. Wenn man dann per Umfahrung
diverser Baustellen im Dörfchen Altheim endlich vor dem Gebäude steht, sieht es
auch bei Ignorierung der nebenan spielenden Blaskapelle gar nicht nach Tango
aus: Ein ehemaliges Raiffeisen-Lagerhaus wurde 1995 umgebaut und enthält nun
ein kleines Restaurant und einen Veranstaltungsraum mit sehr gutem Parkett. Betrieben
wird das im besten schwäbischen Diminutiv „Lagerhäusle“
genannte Etablissement von den „Camphill
Schulgemeinschaften“, in denen behinderte und nicht behinderte Menschen
ausgebildet werden und dort einen sozialen Treffpunkt vorfinden. Neben der
Gastronomie bietet man Musik-, Film- und Theatervorführungen an bzw. richtet Familien-
und Betriebsfeiern aus.
Die Milonga findet unter der
Ägide von Barbara Dintinger und Michael Schnell statt. Die Tanzpädagogin und
Dozentin für Tanz sowie Rhythmik gibt zusammen mit dem Dozenten für
Heilpädagogik, Architekten und Künstler auch Tangounterricht. Für Michael ist „Tangotanzen die schönste und verrückteste
Art, die ‚Unmöglichkeit’ einer harmonischen Mann/Fraubeziehung zu wagen“.
Treffender kann man es nicht sagen!
„Tango con brio“ nennen die beiden ihr Projekt, und wahrlich packt einen der Schwung,
wenn man die Treppenstufen zum Tanzsaal hinuntergeht. Es ist unglaublich, welche
Vielfalt an Klängen die beiden den Tanzpaaren zu Füßen legen. Wiederum reicht
es völlig, die Ankündigung zu zitieren: „Es
erwarten euch spannende Abende auf dem Fundament traditioneller Tangomusik, mit
der Frische neuer Tangokompositionen, der Wärme schönster World ‚Tangos’ und
den Glanzlichtern aus der Tango-Avantgarde.“ Ich rate jedem, der die
Unterschiede einmal erleben möchte, auf einer „normalen“ Milonga (oder dem, was
man heute für normal hält) den Anteil der Paare auf dem Parkett öfters
abzuzählen – im „Lagerhäusle“ waren
es über neunzig Prozent! (Encuentros
lassen wir nicht gelten, da hier der Tanz Ausdruck einer Ideologie und nicht
von Lebensfreude ist.) Und dann wird das Publikum sogar nach Musikwünschen
gefragt – doch was sollte ich wollen angesichts der Tatsache, dass ich mich
bereits nach zwei Stunden dem Zustand grenzwertiger Erschöpfung näherte, weil mich
eigentlich fast jedes Stück zum Tanz animierte! Als wir uns schließlich auf
Titel von „Las Sombras“ wie „Habanera“,
„Sala vacia“ und „Gallo ciego“ (hier eine
Milonga!) bewegen durften, war die allseitige Begeisterung nicht mehr
steigerbar.
„Das ist hier noch wie in den alten Zeiten, als wir
mit dem Tango anfingen“, ging es mir
durch den Kopf, und das betraf nicht nur die Musik: Endlich wieder einmal die
völlige Abwesenheit von schwarz-weißen Männerschuhen, Tango-Rangordnungsgedudel
und alienmäßiger Unnahbarkeit. Kein Zweifel: Den Gästen dort geht es
ausschließlich ums Tanzen, und über diese Betätigung bekommt man ganz schnell
freundliche Kontakte – auf dem Parkett und außerhalb. Wieder einmal fand ich
bestätigt, dass alle sich energievoller, eleganter und kreativer bewegen, wenn
man ihnen musikalische Herausforderungen bietet und nicht ihre Fantasie mit dem
sich immer mehr ausbreitenden Geplemper abtötet.
Kurz vor Mitternacht leider
schon die abschließende „Cumparsita“ (Tradition
– na eben, geht doch…). Ein sehr schnelles Erwachen aus dem Tangotraum – und
auf dem Weg zum Hotel kreisten meine Gedanken um die Frage: Wieviel Tango hat
doch in vier Stunden Platz – vergleichsweise hätte ich dazu sonst Dutzende von
Milongas besuchen müssen…
Schleichwerbung:
Milonga „Lagerhäusle“ einmal
monatlich von 20 bis 24 Uhr, Schulstr. 4, 88699 Frickingen-Altheim
Weitere Infos:
Ein Leser hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich Altheim versehentlich nach Oberschwaben statt ins badische Linzgau verlegt habe. Sorry! Auf den Gag mit dem "Pietkong" bestehe ich aber...
AntwortenLöschenGestern waren wir wieder im "Lagerhäusle": Es war fast noch schöner!
AntwortenLöschenDie Musik: ein wunderbarer Streifzug durch hundert Jahre Tango, der zeigte, wie dynamisch und vielfältig diese Klänge sein können.
Die TänzerInnen: stilistisch sehr verschieden, doch stets die Musik umsetzend - von einer Qualität, wie ich sie insgesamt noch nie auf einer Großstadtmilonga gesehen habe.
Die Ronda: eher nicht vorhanden, der Raum ist quadratisch - und dennoch kaum einmal eine Berührung, keine Verletzungen trotz exzessiver Bewegungen.
Kurz: Ein Tangoabend, wie er vor zehn Jahren noch völlig normal war...