Leseprobe: Aufforderung „per seh“ - mirada und cabeceo
Wie so vieles im
Tango wird auch diese Verhaltensnorm von „ehernen
argentinischen Traditionen“ abgeleitet. Auf althergebrachten Milongas
sitzen Männer und Frauen einander gegenüber, und nach Erklingen der
Zwischenmusik (cortina) hebt ein munteres Geblinzel an: Man versucht, den Blick
(mirada) des Wunschpartners zu erhaschen, und falls dieser kapiert, dass er
gemeint ist, kann er mit einem Kopfnicken (cabeceo) die Aufforderung annehmen
oder im negativen Fall weggucken. Der Vorzug dieser Methode besteht einmal in
der „Wahrung des Gesichts“, d.h. die
versammelte Tangogemeinde bekommt wenig bis gar nichts von einer Abfuhr mit.
Zum anderen bleibt der Aufgeforderten ein direktes „Nein“ erspart (bzw. die Erfindung
irgendwelcher, meist nicht sehr überzeugender Ausreden).
Derzeit wird (vor
allem im Internet) das Auffordern per Blickkontakt heftig propagiert, bis hin
zur Forderung, dies sollte via Veranstalter-Order als eine von vielen „Milonga-Regeln“ einfach so festgelegt
werden. Neben dem üblichen „Traditionsgetümel“ versteigt man sich in
Blogbeiträgen zu Feststellungen wie „Ich
halte deshalb die verbale Aufforderung für eine milde Form der Nötigung“ –
soll heißen, das direkte Ansprechen einer Frau rücke in die Nähe des Sexismus,
da sich die Arme ja nicht zu widersprechen traue und so zu einem ihr
unangenehmen Tanz gezwungen werde (Ex-Minister
Brüderle lässt grüßen…).
Auf den um sich
greifenden Reglementierungs-Wahn
kommen wir noch (siehe Kapitel „Die Standardisierung des Tango“). Bleiben wir
zunächst ganz pragmatisch: Selbst in Buenos Aires ist der cabeceo wohl nur auf
den traditionellen Veranstaltungen Allgemeingut – hierzulande gar führt er ein
Schattendasein, schon da Sitzordnung und Lichtverhältnisse darauf meist wenig
Rücksicht nehmen. Auf meinen vielen Milongabesuchen erlebe ich diese Aufforderungsart
selten – auch deshalb, weil viele Gäste von dieser Möglichkeit schlicht nichts
wissen! Bliebe natürlich die Forderung, die Tangolehrer müssten ihre Schüler halt
darüber aufklären (und die Veranstalter Räumlichkeiten und Beleuchtung neu
gestalten). Aber lohnt der Aufwand?
Hierzu sollte man
wissen, dass sich etliche „Tangoriten“ aus Traditionen
des beginnenden 20. Jahrhunderts
ableiten, die in unserer heutigen, liberalen Gesellschaft als überholt gelten:
Männlichkeitswahn mit heftigster Eifersucht, überzogenen „Ehrbegriffen“ sowie
Unterdrückung respektive Abwertung der Frauen. Hätte es damals ein Tänzer
gewagt, eine Tanguera in Begleitung ihres Ehemanns (oder Zuhälters, vielleicht
sogar in Personalunion) direkt aufzufordern, hätte das locker zu einem
Messerkampf führen können. Entsprechend rührt die Gewohnheit, einen Tanz erst
nach einem „small talk“ zu beginnen, von der früheren Unmöglichkeit her, ledige
junge Frauen außerhalb des Parketts anzusprechen, wo sie von den Müttern oder
Brüdern strengstens bewacht wurden. Das kurze Gespräch zwischen zwei Tänzen
diente also nicht selten zur Vereinbarung eines heimlichen Treffens! Ebenso
wäre eine Tänzerin, die einen Mann aufgefordert hätte, als moralisch verkommen
betrachtet worden. Und für den Machismo
eines Tangokavaliers jener Zeit galt ein Korb als tödliche Kränkung – daher
dienten die heißen Blicke vorwiegend dem Schutz des maskulinen Egos.
Tangoblogger (Internet, 2012): „Mitmenschen, die Cabeceo und Mirada
für Überbleibsel einer argentinischen Macho-Kultur halten, stehen bei mir in
dem leisen Verdacht, dass sie sich einem ehrlichen Wettbewerb um die Gunst der
Frauen nicht wirklich stellen wollen.“
Heinrich Heine („Deutschland. Ein
Wintermärchen“, 1844):
„Das mahnt an das Mittelalter so schön,
An Edelknechte und Knappen,
Die in dem Herzen getragen die Treu’
Und auf dem Hintern ein Wappen.“
Was reitet uns
eigentlich, Rituale wiederzubeleben, die auf repressiven, zwanghaften und
verklemmten Gesellschaftsstrukturen von anno dunnemals basieren? Ich jedenfalls
bin froh, nicht wie frühere Generationen zum Tangotanzen in zwielichtigen
Lokalen des Rotlichtmilieus verkehren zu müssen – und ich glaube, die Frauen
sind darüber noch viel glücklicher! Von außen stehenden Gästen auf Milongas
höre ich immer wieder, sie seien erstaunt, ja berührt davon, mit welchem Feingefühl
die Tangueras behandelt würden. Mag die Wahrheit wegen manchmal unbeholfener
und daher ruppiger Tanz- und Verhaltensweisen auch weniger ideal aussehen: In
Punkto „sexistische Anmache“ bilden
Tangoveranstaltungen – verglichen mit Großraumbüros, Faschingsbällen und
Pauschalreisen – geradezu ein „Naturschutzgebiet“! Zudem halte ich heutige
Frauen im Schnitt für emanzipiert genug, ein nötiges „Nein“ auch auszusprechen.
Und wenn nicht: Es soll, wie weiter oben schon beschrieben, auch Tänzer geben,
die unter mangelndem Selbstbewusstsein leiden – insofern ist Feigheit keine
geschlechtsspezifische Eigenschaft…
Meine Tipps zum Auffordern:
Erstens gucken, zweitens nachdenken, drittens sensibel
bleiben!
Bei einem
Milongabesuch wende ich die „mirada“ durchaus an, jedoch „flächendeckend“!
Soweit ich die Besucherinnen nicht eh kenne, versuche ich, in kurzer Zeit
möglichst viel über die anwesenden Frauen herauszubekommen. Welche sind in
Begleitung bzw. allein da, wie tanzen sie und vor allem: Nehmen sie irgendeine Notiz von mir? Tangueras verfügen über
durchaus subtile Mittel, ihr Interesse an einem Tänzer zu signalisieren: eine
freundliche Begrüßung, ein Lächeln beim Vorübertanzen, ein Sitzplatz in der
Nähe, gelegentliche Blicke u.v.m. Auf jeden Fall möchte ich ergründen, ob die
betreffende Dame momentan mental für mich „frei“ ist oder beispielsweise ein
intensives Gespräch führt, gerade zehn Tangos hinter sich hat usw. Wenn allein
ein solcher Blickkontakt zu einer gemeinsamen Tanzrunde führt – umso besser!
Meist muss man aber doch den langen Marsch zum „Objekt der Begierde“ antreten.
Dies sollte tunlichst von vorne geschehen, damit die Dame ihr (Un)glück kommen
sieht und sich schon eine Reaktion überlegen kann – also kein plötzlicher
Überfall von hinten!
Kommt ein
gemeinsamer Tanz zustande, sind meine Überlegungen damit aber nicht beendet:
Wie freundlich (oder gar begeistert)
wurde die Einladung angenommen, spürte ich beim gemeinsamen Tanz Zuwendung plus
Harmonie oder Zurückhaltung bis Feinfrost? Bei eher reserviertem Verhalten
bringe ich drei Tänze (das
Höflichkeits-Minimum) vorsichtig hinter mich und werde mir gut überlegen,
ob ich die Betreffende irgendwann (!) einmal wieder auffordere. Wenn dagegen
die „Chemie stimmt“, können es auch doppelt so viele Tangos werden – und es
wird sicher nicht die letzte Runde bleiben! (Für
Traditionalisten: Tandas sind mir dabei völlig wurst!) Ich glaube, wenn man
in einer solchen Weise „auf Empfang“ bleibt, ist es nicht so wichtig, wie sich
die Aufforderung konkret gestaltet. Es ist sicher keine gute Idee, eine
Tänzerin überfallartig am Arm (oder an
den Haaren) aufs Parkett zu ziehen – ebenso wenig wie einem Tanguero
stundenlang Löcher in die Figur zu starren (Quelle:
eigene, leidvolle Erlebnisse mit dem „Mi-Radar“).
Und wer weiter lesen möchte, kann dies in meinem
Buch tun: „Der noch größere Milonga-Führer“
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