Die Bilanz nach 15 Jahren: Vom Tango zum Pseudotango
Es
dürfte ziemlich genau diese Zahl von Jahren her sein, als meine Frau und ich –
nach einer etwa ebenso langen Zeit in den „Gesellschaftstänzen“ – den Tango
argentino kennenlernten. Dieser Wechsel fiel uns zunächst nicht allzu schwer:
Einerseits vermissten wir technische Unterweisungen überhaupt nicht – mit
Themen wie Balance, Belastung, Fußarbeit oder Tanzhaltung hatten uns diverse Trainer,
vor allem in der Phase der Breitensportturniere, reichhaltig versorgt.
Gut,
für die argentinische Version des Tango mussten wir einiges „umbauen“, aber
auch ein Standardtanz wie der Langsame Walzer erfordert ja ein anderes Bewegungsmuster als eine Rumba
oder ein Jive in der Latein-Sektion. Dass der Fokus bei den neuen Kursen
wiederum vor allem auf dem Einpauken von „Figuren“ lag, konnte uns ebenso wenig
schrecken: Jahrelang waren wir auf das Abspulen von Schrittfolgen dressiert
worden (im Standardbereich gerne untergliedert in „lange und kurze Seiten“, um
zügig und abwechslungsreich die meist rechteckige Tanzfläche zu umrunden). Und
auch die Persönlichkeitsstruktur der neuen Tanzlehrer bot eher Gewohntes:
Selbstredend war die „Expertenmeinung“ dieser Instrukteure ehernes Gesetz, ein
Abweichen in Richtung individueller Tanzstil daher verpönt, eigene Sichtweisen
oder gar Kritik grenzten an Gotteslästerung...
Wäre
dies alles so geblieben, würden wir sicherlich heute noch mindestens einmal pro
Woche in einem Tanzsportclub herumturnen, spielte für uns der Tango argentino
die Rolle eines „11. Standardtanzes“, den wir – mit gelernten Figurenfolgen –
sicherlich auch gelegentlich auf Milongas vollführen würden. Zwei Umstände
allerdings faszinierten uns derartig, dass wir 2005 Standardtanz und Turnieren
den Rücken kehrten und uns fast ausschließlich dem Tango zuwandten:
Da
war zunächst und vor allem die Musik – damals noch stark geprägt vom europäischen
Siegeszug des Tango in den 80-er Jahren, sprich vom Tango nuevo Piazzollas, von
neu auftauchenden Ensembles des „Elektrotango“ und vielem mehr. Sicherlich
wurden auch traditionelle Aufnahmen geboten, allerdings wäre niemandem von uns
in den Sinn gekommen, hierzu ideologische Schubladen zu
beschriften oder daraus gar ein Streitthema zu machen – und hätte jemand
behauptet, irgendwelche Stücke seien „nicht tanzbar“, wäre er ausgelacht
worden! Getanzt wurde, was aufs Parkett kam, je abwechslungsreicher und
verrückter, desto besser. Genau
das faszinierte uns nachhaltig!
Wenn früher einer unserer Tanzsporttrainer beispielsweise Samba unterrichten wollte, schob er eine Musikcassette in den Ghetto-Blaster, auf der genau dieses Wort stand, und diese nudelte anschließend 45 Minuten Copacabana-Rhythmik ab – welche Titel oder Ensembles dies zustande brachten, war völlig egal, es war halt „Samba“. Um hier gleich einmal ans Ende der Geschichte zu gehen: Neulich erlebte ich eine Stunde Tangounterricht (keine Angst, nicht als Schüler!), bei dem im Hintergrund eine Endlosschleife getragener Di Sarli-Titel dudelte, gefühlte zwölf Mal „Bahia Blanca“ sowie „Verdemar“ – Hauptsache „Übungstango“. Auf den MCs unserer Lateintrainer wiederholten sich die Aufnahmen wenigstens nicht (lag wohl an der damaligen Wiedergabetechnik…). Und ansonsten, hier wie da, steinzeitliche Methodik: "Ich mach' vor, ihr macht nach..."
Wenn früher einer unserer Tanzsporttrainer beispielsweise Samba unterrichten wollte, schob er eine Musikcassette in den Ghetto-Blaster, auf der genau dieses Wort stand, und diese nudelte anschließend 45 Minuten Copacabana-Rhythmik ab – welche Titel oder Ensembles dies zustande brachten, war völlig egal, es war halt „Samba“. Um hier gleich einmal ans Ende der Geschichte zu gehen: Neulich erlebte ich eine Stunde Tangounterricht (keine Angst, nicht als Schüler!), bei dem im Hintergrund eine Endlosschleife getragener Di Sarli-Titel dudelte, gefühlte zwölf Mal „Bahia Blanca“ sowie „Verdemar“ – Hauptsache „Übungstango“. Auf den MCs unserer Lateintrainer wiederholten sich die Aufnahmen wenigstens nicht (lag wohl an der damaligen Wiedergabetechnik…). Und ansonsten, hier wie da, steinzeitliche Methodik: "Ich mach' vor, ihr macht nach..."
Die
Vielfalt der Tangoklänge von Gardel über Piazzolla bis Otros Aires tänzerisch
interpretieren zu sollen, war für uns alle eine herbe, aber auch höchst anregende
Herausforderung. Glücklicherweise bestand die (damals viel kleinere) Szene vorwiegend
aus „Freaks“, einem bunten Sammelsurium von Typen aller Art: individuell bis
eigenwillig, fantasiebegabt, oft biologisch, auf jeden Fall aber geistig jung.
Hätte zu dieser Zeit ein Tangolehrer länger als eine Viertelstunde
„Düdeldudel-Schleifen“ abgespielt, wäre wohl die Aufforderung gekommen: „Ey Mann, haste nix anderes?“
Was
uns auf dieser Basis schnell klar wurde: Tango ist ein
Improvisationstanz, sicherlich mit bestimmten Figurenelementen wie Ochos oder
Sacadas, aber stets mit der Anforderung, damit die gerade gespielte Musik auf
die Fläche zu „malen“. Daher sind die Signale der Körpersprache – also die
technischen Grundlagen – wichtiger als bei jedem anderen Tanz, und die
Choreografie entsprechend nachrangig. Man braucht keine komplizierten
Schrittmuster (trotzdem schön, wenn man sie hat), dafür aber ein Höchstmaß an
musikalischem Einfühlungsvermögen, körperlicher Sensibilität und
Bewegungsbegabung. Unsere Überzeugung wuchs, dass man Tango vor allem auf den
Milongas lernt – gemäß der Frage „Was
geht?“ und nicht „Wie geht das?“.
Leider
wuchs in diesen Jahren die Popularität des Tango enorm, hauptsächlich wohl wegen der Umstände, welche Autoren wie Dieter Reichardt
und Raimund Allebrand als „geborgte Leidenschaft“ bezeichnen: Die
sexuelle Revolution hatte leider nicht zu einer Befreiung der Gefühle geführt.
Zunehmend wurde unser Tanz als probates Mittel gesehen, das zu ändern – doch
damit war der Tango überfordert, und die Menschen, welche zwar dieses
Bedürfnis, jedoch nicht die Fähigkeiten dazu hatten, erst recht.
Als
wir 2007 unsere eigene Milonga ins Leben riefen, konnten wir den personellen
Wechsel in der Szene hautnah mitverfolgen: Zunehmend marschierten bei uns Leute
ein, welche bei einer Eheberatung oder im kirchlichen Seniorenkreis besser
aufgehoben gewesen wären. Sie waren wohl einem Zuhause entflohen, in dem es
weniger nach Musikzimmer oder Künstleratelier aussah, sondern röhrender Hirsch
plus Schrankwand in Eiche rustikal dominierten. Gesucht wurden die Minderung
der (oft nicht nur altersbedingten) Einsamkeit sowie der Ausbruch aus einer
verkopft-zwanghaften Lebenseinstellung respektive die Neuerwärmung einer längst
irreparabel erkalteten Beziehung.
Dass
dies der Tango nicht leisten kann, ist jedem Insider klar. Aber immerhin war
die Population groß genug, dass es sich lohnte, jene neuen Bedürfnisse durch
Schaffung eines „Pseudo-Tango“ zu befriedigen – welcher natürlich auf diese
zugeschnitten sein musste: Entscheidend war vor allem, den groben Unfug zu
verbreiten, ein jeder könne diesen Tanz lernen (selbst wenn er sintemalen den
Standardtanzkurs wegen erwiesener Begabungslosigkeit verlassen hatte). Er müsse
ja „nur gehen“ können. Und selbstredend gebe es einen „Grundschritt“ (die
berühmte Basse) mit daran anschließenden Variationen, alles nur eine Frage des
Auswendiglernens (eine Spezialität des zwanghaften Persönlichkeitstypus).
Natürlich müsse man hierzu teure Kurse und „Workshops“ bei anerkannten, also
argentinischen Lehrern buchen (ein Exotik-Marketing, welches perfekt mit
spießigen Denkstrukturen kompatibel ist – siehe die „Italienwelle“ der
Wirtschaftswunder-Jahre).
Wie
beim Radlfahren (heute nur noch möglich mit Karbonrahmen, 36 Gängen, Sturzhelm
sowie wurstpellenartiger Papageienkluft) habe man allerdings kräftig in die
Hardware zu investieren: Ohne gestreifte Schlaghosen, pseudoerotische
Tangofummel, schwarzweiße Zapatos respektive nuttige Stilettos,
Festivalbuchungen sowie Tangokreuzfahrten ginge da wenig – so geriet der
Pseudotango per Ausstattungsrevue zur wirtschaftlichen Branche. Und genau wie
beim Tanzsport kam es ab einer bestimmten Größe der Szene zu einer
Spezialisierung: Wer begeistert und gut tanzte, blieb auf dem Parkett – der
Rest wechselte in den Vorstand, wurde DJ oder Tanztrainer…
Ein
hartnäckiges Problem blieb allerdings die Musik: Die mit einer solchen
Marketingstrategie angelockte bzw. bediente Kundschaft, der es eh nicht primär
ums Tanzen ging, war natürlich nicht im Ansatz dazu fähig, ein Piazzolla-Stück
oder einen sinfonischen Tango von Mariano Mores zu interpretieren (bitte nicht
nachfragen, wer Letzterer ist, wird heute kaum noch gespielt). Die geniale
Beruhigung für die Schüler neuen Typs: Das könne man auch nicht, da dies mitnichten
den „echten“ Tango, sondern „Untanzbares“ darstelle, bestenfalls für Konzerte
oder Shows geeignet. Ein Glück, dass eine ganz ähnliche Kommerzialisierung
bereits im Argentinien der 20-er bis 50-er Jahre stattgefunden hatte. Deshalb
konnte man auf einen Fundus von Stücken mit Rhythmiken und Arrangements
zurückgreifen, welche zur Umsetzung auf dem Parkett auch bei bescheidenster
tänzerischer Begabung geeignet waren. (Wohlgemerkt: Es gibt aus dieser Zeit
auch tolle Titel, aber man kann ja auswählen…)
Fehlte
noch der Überbau, sprich die ideologische Absicherung dieser Strategie! Erfreulicherweise
fanden sich gerade im Internet die mit dem nötigen Tunnelblick ausgestatteten
Gurus, welche kurzerhand schwierigere Musik als „entartet“ klassifizierten und
dem Tango generell jegliche Weiterentwicklung als Tanzmusik nach 1960 absprachen
(wieder perfekt auf Spießer zugeschnitten, siehe die Abwertung des Rock’n Roll
als „Negermusik“ in den Wirtschaftswunderjahren). Und das langweilige
Herumgehatsche mangels anspruchsvoller Klänge sowie hierzu begabter Tänzer?
Dies sei überhaupt kein Defizit, sondern (wenn auch nicht im Wortsinne) ein Fortschritt in Richtung „rücksichtsvolle Bewegung in der Ronda“. Eine wahrhaft geniale Strategie!
Auf
diese Weise wurde man mit der Zeit fast alle Tänzer los, welche mehr wollten, es
aber beim Tango nicht mehr fanden. Nur noch wenige aus den „Anfangsjahren“
ertragen die heutige Kombination von rachitischer Musik und arthrotischen
Bewegungsdefiziten. Wer erst seit ein paar Jahren auf Milongas geht, kennt es
kaum noch anders. Das kann durchaus eine Gnade sein…
Meine
Frau und ich gehören wohl zu den „lebenden Fossilien“, welche sich in dieser
Evolution ein hinreichend dickes Fell zugelegt haben, um hinter alledem noch
die Tangofaszination unserer „Vor- und Frühgeschichte“ zu spüren. Und wie alle Quastenflosser kennen wir einige ökologische Nischen, die noch frei vom
Pseudotango sind – so wie einst die Straßenecke, unter einer Laterne, zum
traurigen Klang eines Bandoneóns…
Foto: www.tangofish.de |
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