Kräht der Hahn auf dem Mist – Trendsetter im Tango
„Mir san die Hautevolee, mir ham den Überschmäh. Mir
san a Wahnsinn, mir san in.“
(Reinhard Fendrich: Schickeria)
„Sich zu trauen, alte Strukturen sowie eigenes Wissen
in Frage zu stellen, spricht für den Mut von den Top-Lehrern.“
(Tangolehrer, Info im Internet)
Abgesehen davon, dass
letztere Haltung natürlich nicht nur Tanzpädagogen, sondern schlichtweg jeden
adelt, wundert man sich bei einer solchen Aussage aus jener Zunft schon über
den Zusammenhang: Propagiert wird hier nämlich nicht etwa der Aufbruch zu neuer
Musik oder bislang unbekannten Tanzstilen, sondern im Gegenteil die Rückkehr
zum engen Tanzen à la Milonguero.
Der Höhepunkt eines Trends,
so lesen wir die geschichtsphilosophische Deutung, markiere oftmals schon
dessen Untergang – will sagen, als der getanzte Tango nuevo um 2008 boomte, sei
der Moment schon nahe gewesen, wo er nicht mehr unterrichtet, wenn auch
(bedauerlicherweise?) zum Teil heute noch getanzt werde. Als Kronzeugen zitiert
der Autor dieses Essays das Tanzpaar Sebastian Arce und „Marianne“ Montes.
(Letztere hat sich wohl am meisten gewandelt und sogar ihren Vornamen
gewechselt – hieß die nicht früher „Mariana“?)
Dass der „Mut, sich zu verändern“, der hier als
Überschrift herhalten muss, generell löblich erscheint, wird niemand bestreiten
– wenn allerdings der (gefühlte) allgemeine Trend synchron in die gleiche
Richtung geht, darf man schon einmal über den Grad an Courage und individuellem Urteil diskutieren.
Welche Argumente sprechen
nun plötzlich für den ausschließlich engen Tanzstil? Wortreich wird dargetan,
er sei schwieriger umzusetzen als die offene Haltung. Nun liegen mir allerdings
dutzendfach Äußerungen aus argentinischem (und daher selbstredend kompetentem)
Mund vor, der Anfänger sei deshalb in der engen Umarmung zu schulen, da sich
hierbei die Führungsimpulse direkter und somit einfacher vermitteln ließen. Und
wenn das Gegenteil richtig wäre: Soll man hinfort den Tango in einer schwerer
zu erlernenden Form unterrichten – und dies angesichts der chronischen Angst
von Tanzlehrern, überforderte Schüler könnten sich Kursen (respektive deren
Gebühren) entziehen?
Selbstredend ist nicht
nachzuweisen, dass man dadurch von einer momentanen Moderichtung auch ein paar
Interessenten abhaben möchte – widerlegt wird allerdings dieser Verdacht auch
nicht gerade. Und der Vorzug, durch Beherrschung verschiedener Stile ein
breiteres Spektrum von Musik interpretieren zu können, hat ein Manko: Man kann
daraus keinen Trend basteln.
Seltsam mutet es auch an,
wenn zeitgleich DJs, die bislang fast synonym für den Neotango standen, nun
auf einmal die Schätze entdecken, welche in der traditionellen Tangomusik
schlummern. Haben sie denn früher ihre Kopfhörer als Schallschutz verwendet, statt
sich ihre Tonträger einmal genauer anzuhören? Nun kann ich es gut verstehen,
wenn professionelle Aufleger das bieten, was der Veranstalter ordert. Wenn man
dann aber selber Traditionsmilongas (inklusive Cabeceogeblinzel plus
Boleoverbot) veranstaltet, ist schon von einem echten Persönlichkeitswandel
auszugehen! Und falls die grassierenden Seminare zur Musik des „Goldenen
Zeitalters“ wenigstens die allgemeine Erkenntnis befördern, dass beim 4/4-Takt
die Eins und Drei betont sind, wäre dies ja durchaus zu begrüßen…
Wenn allerdings der Mut zur
Veränderung mit der Verleugnung des Bisherigen einhergeht, sollte man um den
Matthäus 26,34 lieber einen Bogen machen und den Hahn nicht krähen lassen – wer
weiß schon, was man erleben würde, bevor der Morgen graut?
Vielleicht ist der
Hintergrund ja viel harmloser: Die heutigeTangoszene leidet ja nicht gerade an
einer Überdosis Kreativität. Ob Schuh- und Kleiderverkauf, Workshops mit
spanischen Namen, Pappnasentango oder Dirndlmilonga – was beim Konkurrenten ein
paar Gäste mehr bringt, wird umgehend abgekupfert. Da erscheint die Frage nach
Inhalten reichlich verstiegen.
Es geht nicht um Stile, es geht ums Geld. Wenn keiner mehr Colgadas lernen will, aus dem einfachen Grund, weil er/sie diese Figuren (a) nicht beherrscht, und wenn doch, sie (b) nicht ausführen kann, wegen Platzmangels, dann wird halt nicht mehr "Neo" unterrichtet. Weil das mit dem Geld aber keiner zugeben will, wird Aesop zitiert: Der Fuchs will die Trauben gar nicht, weil sie zu sauer sind. Im Übrigen: Gerade dieses Paar unterrichtete zwar Neotango, hatte aber von Neotangomusik nicht die geringste Ahnung!
AntwortenLöschenVor allem wird ja musikalisch kaum noch zwischen Tango nuevo und Neotango ("Elektrotango") unterschieden, obwohl diese Stilrichtungen über 40 Jahre auseinander liegen. Aber zwischen einem Stück von Piazzolla und Otros Aires liegen halt Welten...
LöschenAnsonsten - klar geht's oft genug ums Geld. Das ist halt das Problem einer wachsenden und sich daher professionalisierenden Branche. Ich bin jedenfalls froh, jedes Finanzamt davon überzeugen zu können, dass ich den Tango als "Liebhaberei" (amtsdeutsch!) betreibe!
Mit Schritten und Figuren im Tango ist es wie mit der Kleidung: Immer mal was Neues und dann, in angemessenem zeitlichen Abstand, wieder das Gleiche – die junge Generation merkt’s ja nicht!
LöschenVor ein paar Jahren drehten sich Colgada- und Volcada-Karussells auf den Tanzflächen fast schon zwanghaft „im irren, wirren Kreis“. Jeder Tänzer, der etwas auf sich hielt, wusste: Das muss ich bringen – möglichst noch ohne dabei mitsamt meiner Partnerin wechselweise auf der Rückseite oder auf der Nase zu landen…
Vielleicht ist das doch zu oft passiert? Denn derzeit ist wiederum das enge Tanzen dran: Besser man hält sich gegenseitig ganz fest, das ist ja schließlich auch gemütlicher als die wilde Dreherei – nein, pardon – es ist das einzig Wahre! Dazu fällt mir die Zeile eines Schumann-Liedes ein: „Aus alten Märchen winkt es…“!
Zum Trost: Wir haben die Colgadas und die Volcadas überlebt, dann überstehen wir auch das ausschließlich enge Tanzen…
Karin Law Robinson-Riedl
Wie man beispielhaft an dem Paar Arce/Montes sieht, bieten argentinische Tangolehrer stets das, was der Europäer will. Vor Jahren noch waren höchst virtuose, dynamische Tänze gefragt, und da waren sie Spitze (siehe z.B. "Libertango").
AntwortenLöschenInzwischen verkauft sich bedeutungsvoll-zögerndes Herumgeschleiche zu EdO-Musik besser, nun wird halt das geliefert - selbst wenn Herr Arce dazu gefühlte 15 Kilo zunehmen musste. Das nenne ich Kundenorientierung!
Trefflich formuliert! Ich habe in meiner Zeit schon etliche Stile, Attitüden, Tanzhaltungen und Marotten kommen und schwinden sehen. Auch wenn ich sonst selten Deiner Meinung bin, ist diese Einschätzung schon treffend.
AntwortenLöschenLieber Klaus Wendel,
Löschenbist Du's wirklich?
Nach all dem Gepolter über meine Person bzw. meine Bücher?
Na, das freut mich aber.
Vielen Dank für die Zustimmung!
Gerhard Riedl
Lieber Gerhard, auch wenn ich in manchen Punkten nicht Deiner Meinung bin, heißt das doch nicht, dass ich all Deinen Meinungen widerspreche. Ich glaube sogar, dass wir in einem Gespräch (nicht in diesen oft misszuverstehenden Emails) viele gemeinsame Anschauungen entdecken würden.
AntwortenLöschenLieber Klaus Wendel,
Löschenna prima!
Du bist natürlich eingeladen, hier öfters - gerne auch kritisch - zu kommentieren.
Mit besten Grüßen
Gerhard Riedl