Schullandheim-Milonga

Niveau sieht nur von unten betrachtet wie Arroganz aus.

Ich gestehe hiermit, dass ich mich schon in meinem früheren Hauptberuf stets um die Teilnahme an Klassenfahrten zu drücken versuchte. Die Kombination aus Früchtetee, Stockbetten, muffigen Garderoben, Unordnung , pubertärem Gedöns und faschistoiden Hausmeistern schreckte mich nachhaltig ab. Nie hätte ich mir träumen lassen, dieser Melange beim Tango erneut zu begegnen.

Erst neulich wieder geriet ich auf eine Milonga, welche meine Urängste aus der Schullandheim-Epoche aufleben ließ. (Um die Wiedererkennung zu erschweren, habe ich einige Details verfremdet, daher meine herzliche Bitte: Lasst bitte das „Wer war’s-Spielchen“ – mir geht es um Zustände und nicht um reale Orte und Personen!)

Es ist sicher nicht dem Veranstalter anzulasten, wenn im Umkreis von fünfhundert Metern totales Parkverbot herrscht. Gerade in solchen Fällen wäre man als Fremder aber glücklich über die Empfehlung von Parkmöglichkeiten, welche den Fußmarsch auf höchstens einen Kilometer beschränken. Auch das Finden der Adresse ist ja heute dank Navi kein Problem mehr – wenn allerdings der Anmarsch über verschlungene Fußwege führt, müsste man das Gerät vorher im Auto ausbauen… Nicht gerade zur Tangostimmung trägt auch bei, dass ich mir im Erdgeschoss erst einmal den Weg durch Bier trinkende Jugendliche bahnen muss, die vor einer brüllenden Disco herumlungern.

In der Garderobe ist es, im Gegensatz zur Neonbeleuchtung im Tanzsaal, stockdunkel. Meine suchenden Hände ertasten einen mindestens zwei Meter fünfzig langen, beidseitig zu behängenden Garderobenständer. Na immerhin bleibt mir das Erlebnis mit einem auf zwei Nägeln ruhenden Besenstiel erspart, der seinerzeit schließlich unter der Last von fünf Dutzend Winterausstattungen herunterkrachte und mir eine halbe Stunde Suche nach meinem schwarzen Mantel inmitten vieler anderer dunkler Jacken und Mäntel bescherte. Der Veranstalter stand übrigens wenige Meter daneben und zog es vor, in seiner Plauderei mit einigen Tango-VIPs fortzufahren…

Das soll mir heute nicht passieren! Sicherheitshalber hänge ich meine Jacke (von der Treppe aus gesehen) an den äußersten rechten Haken. Eine Sitzgelegenheit vermisse ich nicht, da ich gar keine erwartet habe – na gut, das Wechseln der Schuhe im Stehen gehört ja zu den Grundfertigkeiten des Tangueros…

Das Parkett ist mit einer Reihe von Plastik-Billigstühlchen umgeben, den Rest des Mobiliars hat man in einer Ecke zusammengeschoben und aufgetürmt. Das Schönste aber: Im ganzen Saal gibt es – in gegenüber liegenden Ecken – genau zwei Abstellmöglichkeiten für Getränke: ein kleines Tischchen sowie eine Art Spüle, beides schon dicht belagert. Mithin beschließe ich, heute der Dehydrierung zu frönen, was mir umso leichter fällt, da die Kellnerin, welche im Dreiviertelstunden-Rhythmus den Saal durchstreift, zweimal mit leerem Blick an mir vorüber eilt. Im einen Kilometer entfernten Auto wartet ja nachher ein heißer Tee...

Umso tragischer, da doch gerade die Gastronomen bei Milongas darüber klagen, dass die Tangoleute so wenig konsumieren! Sicherlich muss man als Veranstalter oft genug nehmen, was man kriegt – und dies ist nicht selten der „Saal im ersten Stock“. Nachdrücklich plädiere ich daher für kostendeckende Eintrittspreise, auf dass man die GEMA bezahlen sowie dem Wirt eine ordentliche Saalmiete hinlegen kann und so die Tangostimmung nicht durch muffelnde Kellner heruntergezogen bekommt. Doch gerade in diesem Fall ergab schon eine oberflächliche Musterung der Sperrmüllbestände, dass man mit etwas mehr Eigeninitiative eine zweckmäßigere Möblierung hinbekommen hätte. Und auch die Beschaffung einiger gemütlicherer Beleuchtungskörper (z.B. Lichterketten) oder eines Putzeimers plus Feudels muss den Etat ja nicht sprengen…

Als mich das Ambiente sowie weitere Gründe, über die ich barmherziges Schweigen decke, nach  einiger Zeit in die Flucht trieben, traf mich Murphys Gesetz mit voller Härte: Ich fand meine Jacke nicht mehr! War bei mir der Alzheimer schon so weit fortgeschritten? Ich hatte sie doch am Haken ganz rechts… Doch da hing nun ein Jöppchen in Größe 36, welches mir ganz bestimmt nicht gepasst hätte! Und daneben – ich suchte die ganze Reihe ab: Fehlanzeige. Nach einem mehrminütigen Schweißausbruch fielen mir dann die Rollen auf, auf welchen die ganze Pracht ruhte. Da wird doch nicht einer das ellenlange Ding um 180 Grad… Bingo! Meine Jacke hing nunmehr links hinten.

Auf dem Rückweg zum Auto hatte ich genügend Zeit, meine Odyssee noch einmal Revue passieren zu lassen: Da führt man im Internet feinsinnige Diskussionen darüber, ob eine Runde Elektrotango oder eine Fremdberührung auf der Tanzfläche schon die Stimmung des ganzen Abends versaue respektive eine cabeceofreie Aufforderung an sexuelle Nötigung grenze. Einer Szene, die solche Probleme hat, kann es doch nicht wirklich schlecht gehen! Mir dagegen hätte an diesem Tag die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse wie Orientierung, Nahrung und Kleidung völlig gereicht…

     

Kommentare

  1. Was ist den wichtig an einem Milonga-Abend?
    Für mich:
    1. Haben wir gut getanzt,
    2. War die Musik gut (Auswahl & Akustik)
    3. War der Boden gut.

    Deswegen verstehe ich die Aufregung /Kritik nicht, denn:
    meine Getränke hole/kaufe ich mir fast immer selbst,
    Garderoben sind mir fast egal
    und je schlechter eine Veranstaltung zu finden war- desto besser war sie.

    Peter Sommer

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    1. Na klar, verstehe ich schon. Um es mal mit Urlaubsreisen zu vergleichen: Für den jungen Rucksacktouristen reichen Zelt, Salamibrot und Sonnenuntergang. Im fortgeschrittenen Alter inklusive seniler Verwöhntheit reduzieren die Kakerlaken im Badezimmer meinen Urlaubsgenuss halt erheblich.
      Das Schlussargument unterschreibe ich: Bei schlechter Wegbeschreibung kommen nur die mit dem besten Orientierungsvermögen durch - und das merkt man dann auf der Tanzfläche (war an diesem Abend leider nicht so).

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    2. OK - dann bin ich der nicht verwöhnte im fortgeschrittenem Alter - wenn ich bei guter Musik gut getanzt habe, war die Milonga gut. Man sollte den Veranstaltern eine Chance gegen (persönlich informieren), denn Milongas sind meiner Meinung nach finanzielle Zuschussgeschäfte. Ich freue mich auf jeden Fall auf neue Möglichkeiten Tango zu tanzen Gruß Peter Sommer

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    3. Sicher ist mir die Musik besonders wichtig - daher war ich schon auf vielen Milongas, wo ich mein Getränkeglas unter den Stuhl stellen oder meinen Mantel übers Treppengeländer hängen musste. Genervt hat mich das trotzdem. Und mit Geld hat die Bemühung, noch drei kleine Tischchen aufzustellen oder zwanzig Drahtkleiderbügel mehr zu besorgen, so gut wie nichts zu tun, eher mit Lebensart. Ich kenne "Zuschuss-Veranstaltungen", wo das klappt - genauso, wie teure Events mit "Zeltlager-Verhältnissen".
      Ich habe meine Bedenken natürlich auch schon persönlich angebracht, mit wenig Erfolg. Der Wunsch nach Niveau steht halt inzwischen unter "Elite-Verdacht" und rangiert deshalb im Schimpfwortbereich.
      Aber es gibt ja doch genügend Milongas mit freien Kleiderhaken - leider mehr als mit abwechslungsreicher Musik...

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    4. Nach einem Dreivierteljahr habe ich mich nun nochmals hingewagt: Es hat sich doch einiges verbessert - insbesondere entfiel die 180 Grad-Drehung des Kleiderständers...
      Das Schönste war die Bemerkung einer Tänzerin nach dem ersten gemeinsamen Tango: "Du machst immer so große Schritte!" Alles, was mir dazu in der Eile einfiel: "Na ja, so lange der Sänger die Luft anhält..."

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