Tango-Märchen

Ja, die „alten Milongueros“, die heute fast ausgestorben sind… Leute, welche das Ende des „Goldenen Zeitalters“ im Tango (1955) noch auf dem Parkett kennengelernt haben, müssen derzeit mindestens 85 Lenze zählen! Da lassen auch die Erinnerungen nach.

Gut, dass es noch Tanzlehrkräfte gibt, die solche lebenden Fossilien kennengelernt haben und dies kräftig zur Werbung einsetzen! Eine sehr bekannte Tangopädagogin schrieb kürzlich auf Facebook:   

„Meine Tanzgeneration lernte, indem sie den alten Milongueros zusah.

Die Milonga-Szene, ihre Codes und Geheimnisse, waren jeden Abend zum Greifen nah. Wir lernten das Wesentliche (das, was sich hinter dem Offensichtlichen verbirgt), indem wir sie obsessiv beobachteten:

Die perfekten Rondas, wie ein vorher abgesprochenes Ballett, der Körper fest auf dem Tanzboden, mit einer niedrigen Achse wie ein Ferrari, und die Musik war an ihren Körpern zu sehen, während sie durch die Umarmung glitten.

Wenn der Platz knapp war, tanzten sie dank ihrer unglaublichen Körperwahrnehmung auf einer einzigen Bodenfliese. Sie konnten auf einem Quadratmeter das tun, was andere im ganzen Salon ausführten.

Sie hatten eine geringe Toleranz gegenüber selbst dem geringsten Kontakt mit einem anderen Tänzer – sie waren unantastbar. Niemand durfte die Frau berühren, während sie in ihren Armen war. Eine Berührung auf der Tanzfläche konnte manchmal zu einer Rauferei führen.

Sie konnten einen Schritt nicht wiederholen, um ihn zu lehren, was zu einiger Frustration führte.“

Den Frust kann ich mir vorstellen! Ich hoffe, dass es damals schon die Möglichkeit von Videoaufnahmen gab – sonst muss man halt das unterrichten, was man glaubte, beobachtet zu haben. Ganz wichtig sind Geheimnisse: Die wollen dann alle wissen!

Aber eigentlich möchte ich gar nicht auf einer einzigen Bodenfliese tanzen – schon im Schwimmbad würde es mich nerven, durchs Fußwaschbecken kraulen zu sollen… Nicht vergessen: der Körper fest auf dem Tanzboden, Schweben unerwünscht!

Und dann wurde man eventuell vom Maestro noch verhauen, wenn man ihn am Rockschoß streifte… eigentlich will ich doch zum Tanzen gehen statt mich zu prügeln!

Ferrari ist auch nicht mein Fall – mir reicht mein Japaner! Der ist zwar nicht tiefer gelegt, aber preiswerter.

Die Rondas als Ballett… ich sehe die alten Seckel im Tutu (ein Lallwort aus der Kindersprache) umherschweben – nein, genug, ich kriege die Bilder sonst nicht mehr aus dem Kopf! Und Milongueras sind im Tango ja nicht erwähnenswert.

Damit wir nicht übermütig werden, sehen wir dazu noch ein Video mit einem gar vorschriftsmäßigen Tanzpaar an. Glücklicherweise sind der Herr (artgerecht mit Pferdeschwanz) und die Dame doch etwas jünger – werden wohl Nachfahren der Maestros und Maestras sein. Und wenn man den Ton zuschaltet, erkennt man, dass sie einen Vals tanzen:

https://www.facebook.com/watch/?ref=saved&v=1076969434569292

Na gut, warum nicht? Aber morgen schaue ich dann wieder Farbe beim Trocknen zu…

In den Kommentaren jedenfalls jubelt man sich eins:

„Susanas Beschreibungen der Entwicklung des Tangos wecken in mir immer starke Emotionen und den Wunsch, mehr darüber zu erfahren.“

„Es ist eine praktische, ehrliche Art zu tanzen. Jede Rose braucht Erde. Jede transzendente Tanda wurde von einem praxiserfahrenen Leader unterstützt.“

„Heiliges Wissen!!!!! Heiliger Tango!!!!!!“

Fügen wir noch hinzu: Der Argentinier hat den Tango im Blut. 

Warum kann man zu unserem Tanz heute jeden Schwachsinn (meist zu Werbezwecken) erfolgreich verzapfen? Je dümmer, desto besser… Ich glaube, das hat denselben Grund, der auch Märchen funktionieren lässt:

Valentina Kramer (Buchautorin: :„Es war einmal… ganz anders“) schreibt dazu:

„Die Märchen zeichnen damit ein ganz klares Bild des idealen Menschen, das sich auch sofort auf die Leser überträgt. Überspitzt formuliert: Nur schöne, liebe, fleißige und schlaue Menschen (nach der jeweiligen vorherrschenden Meinung) sind achtenswert.

Nach diesem Bild sind dann natürlich auch die Figurenbeschreibungen angelegt: Junge Mädchen sind immer schön und lieb. Der faule/dumme Sohn erbt nichts. Die Hexe ist immer hässlich, alt und natürlich böse, Stiefmütter erst recht. (…)

Die Märchen schaffen also eine sehr geordnete kleine Welt, in der sie funktionieren. Es sind klare, unverrückbare Strukturen, die vermittelt und beschrieben werden. Manchmal werden sogar abscheuliche Gemeinheiten der Figuren einfach auf eine ihr irgendwie zugeordnete Schublade geschoben (die Hexe ist nun mal böse, natürlich brät sie Kinder im Backofen). So, dass alles in allem eine recht einseitige, begrenzte Sicht auf die Vorkommnisse gezeigt wird und auf den ersten Blick sehr klar ist, wer im Gerechtigkeitsgefühl des Lesers ‚zu gewinnen‘ hat.“

https://www.maerchenspinnerei.de/news/vorurteile-in-maerchen/

Erwachsenen ist natürlich klar, dass es sich dabei um Klischees handelt, die mit dem wirklichen Leben wenig zu tun haben.

Außer natürlich im Tango… und der Politik… in Religionen… in Vereinen und Verbänden… unter Verwandten…

Nein – es ist auch Erwachsenen nicht klar!

Und hier noch einige moderne Märchen-Fassungen:

https://www.youtube.com/watch?v=j6KzPDdVxFE

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.